Eltern, die ein behindertes Kind versorgen, dürfen im Beruf keine Nachteile erleiden. Der Europäische Gerichtshof hat klargestellt, dass sich der Schutz vor Benachteiligung wegen einer Behinderung auch auf Mütter und Väter erstreckt, die die Pflege und Betreuung eines behinderten Kindes sicherstellen müssen.
Arbeitgeber sind verpflichtet, Arbeitsorganisation und -zeiten so zu gestalten, dass die notwendige Versorgung möglich bleibt, sofern das Unternehmen dadurch nicht unverhältnismäßig belastet wird.
Inhaltsverzeichnis
Die Entscheidung in Klartext
Im Ausgangsfall wollte eine Arbeitnehmerin wegen täglicher Behandlungs- und Betreuungszeiten ihres schwerbehinderten Kindes ausschließlich vormittags arbeiten. Der Arbeitgeber lehnte das ab. Der EuGH stärkt nun Eltern in vergleichbaren Situationen: Wird jemand schlechter gestellt, weil er die Behinderung eines nahen Angehörigen kompensieren muss, liegt eine unzulässige mittelbare Benachteiligung vor.
Daraus folgt eine Pflicht des Arbeitgebers, angemessene Vorkehrungen zu treffen – etwa bei Dienstplänen, Schichtfolgen, Einsätzen vor Ort oder im Homeoffice. Welche konkrete Lösung passt, hängt vom Einzelfall ab; Unternehmen müssen aber ernsthaft prüfen, welche Varianten zu einer verlässlichen Kinderbetreuung führen, ohne den Betrieb über Gebühr zu belasten.
Was heißt „angemessene Vorkehrungen“?
Angemessene Vorkehrungen sind organisatorische Anpassungen, die Beschäftigten die Vereinbarkeit von Pflege und Arbeit tatsächlich ermöglichen. Dazu zählen verlässliche Vormittags- oder Nachmittagsfenster, Gleitzeit mit definierten Kernzeiten, ein verabredetes Kontingent an Homeoffice-Tagen, ein längerer Planungs- und Tauschvorlauf im Schichtbetrieb oder eine Versetzung auf gleichwertige, planbare Tätigkeiten.
Der Arbeitgeber kann nicht pauschal mit „geht nicht“ antworten, sondern muss prüfen, dokumentieren und begründen, warum eine bestimmte Maßnahme machbar oder unzumutbar ist.
Die Grenze: Unverhältnismäßige Belastung
Nicht jede gewünschte Lösung muss umgesetzt werden. Unverhältnismäßig kann eine Maßnahme sein, wenn sie die Funktionsfähigkeit des Betriebs gravierend beeinträchtigt, etwa wegen zwingender Sicherheitsanforderungen, stark begrenzter Personaldecke oder unverhältnismäßiger Mehrkosten.
Maßstab sind Größe, Struktur und Ressourcen des Unternehmens. Entscheidend bleibt: Der Arbeitgeber muss Alternativen prüfen und nachvollziehbar darlegen, warum sie nicht in Betracht kommen.
Einordnung ins deutsche Recht
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbietet mittelbare Benachteiligungen wegen einer Behinderung. Dieses Diskriminierungsverbot greift auch, wenn ein Elternteil Nachteile erleidet, weil er die Behinderung des Kindes ausgleicht. Die EuGH-Linie verpflichtet deutsche Gerichte, das AGG entsprechend auszulegen.
Für die Praxis bedeutet das: Wo die Betreuung nachweislich nur mit einer bestimmten Organisation der Arbeitszeit gelingt, erhöht sich der Druck auf Arbeitgeber, tragfähige Lösungen zu entwickeln und zu vereinbaren.
Verhältnis zu Pflegezeit und Familienpflegezeit
Die Entscheidung ändert nichts an bestehenden Freistellungsrechten, sondern ergänzt sie. Kurzzeitige Arbeitsverhinderungen, Pflegezeit und Familienpflegezeit bleiben wichtige Instrumente, wenn Pflege vorübergehend oder in längeren Blöcken organisiert wird.
Reicht eine Freistellung nicht aus oder ist sie nicht zweckmäßig, greift der Anspruch auf zumutbare Anpassungen im laufenden Arbeitsverhältnis.
So setzen Eltern ihre Rechte um
Wer die Arbeitsbedingungen anpassen muss, sollte zunächst die tatsächlichen Anforderungen sauber belegen: Therapie-, Förder- und Behandlungstermine, ärztliche Bescheinigungen zur Notwendigkeit der Anwesenheit, organisatorische Gründe der Familie und die Zeiten, in denen andere Betreuung nicht realisierbar ist.
Danach folgt ein konkreter Vorschlag, der zum Betrieb passt, etwa feste Vormittagsschichten von Montag bis Freitag, definierte Kernzeiten mit Gleitkorridor oder zwei verlässliche Homeoffice-Tage pro Woche. Sinnvoll ist ein schriftlicher Antrag mit kurzer Begründung, der einen realistischen Starttermin enthält und den Arbeitgeber um Stellungnahme binnen einer angemessenen Frist bittet.
Lehnt der Arbeitgeber ab, sollte man eine detaillierte Begründung verlangen und Gesprächs- bzw. Einigungsstellen im Betrieb einbinden, also Betriebs- oder Personalrat sowie – falls vorhanden – Gleichstellungs- oder Inklusionsbeauftragte. Wichtig sind außerdem Fristen: Ansprüche wegen Benachteiligung müssen zeitnah geltend gemacht und, falls nötig, gerichtlich verfolgt werden.
Für wen das Urteil besonders wichtig ist
Besonders profitieren Eltern in Schicht- und Wechseldiensten, weil planbare Zeitfenster Betreuungslücken zuverlässig schließen. Alleinerziehende mit Nachmittags-Therapien gewinnen Gestaltungsspielraum, wenn Vormittagsmodelle oder fixe Kernzeiten eingeführt werden.
Im öffentlichen Dienst, im Sozial- und Gesundheitswesen sowie im Handel bestehen häufig organisatorische Alternativen, die ohne Substanzverlust genutzt werden können. Auch in Teilzeit- und Minijob-Konstellationen gelten die Grundsätze uneingeschränkt.
Fazit
Der EuGH setzt ein deutliches Signal: Pflege und Betreuung behinderter Kinder sind keine Privatangelegenheit, die Beschäftigte allein schultern müssen, sondern ein rechtlich geschütztes Anliegen. Arbeitgeber müssen praktikable Lösungen suchen und ermöglichen, solange dies verhältnismäßig bleibt.
Wer seine Bedarfe gut dokumentiert, konkrete Modelle vorschlägt und die betrieblichen Möglichkeiten einbezieht, verbessert die Chancen auf eine rechtssichere, alltagstaugliche Vereinbarung.