Das Merkzeichen „G“ im Schwerbehindertenausweis berechtigt zu Nachteilsausgleichen im öffentlichen Raum und Straßenverkehr. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg entschied jetzt, dass die Kriterien für dieses Merkzeichen und den Grad der Behinderung (GdB) unabhängig vom Lebensalter des Antragstellers sind.
Das Urteil beruht auf der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) und der Definition des GdB gemäß § 2 SGB IX.
Eine Abweichung von den Tabellenwerten könne es im Einzelfall zwar geben, aber nur wegen atypischer Auswirkungen der Einschränkungen auf den Zustand der Behinderung. Das Lebensalter allein erlaube es nicht, von den Funktions-Mittelwerten abzuweichen. (Az.: L 8 SB 521/13)
Mit dieser Begründung wiesen die Landesrichter die Klage eines Betroffenen ab, der das Merkzeichen „G“ mit der Begründung beanspruchte, als 26-jähriger Mensch unterschieden sich sein Alltag und sein Umfeld deutlich von denen eines durchschnittlichen 70-Jährigen.
Deshalb müssten auch bei der Beurteilung der Auswirkung der Behinderung auf die Lebensqualität andere Maßstäbe gelten. Die Richter erklärten ausführlich, warum sie dieses Argument nicht überzeugte. Sie betonten, dass der GdB nicht individuell anhand der Lebensumstände oder des Alters, sondern pauschal und abstrakt nach festen Kriterien zu bemessen sei.
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Grad der Behinderung 60 und Merkzeichen „G“ wegen Krebs
Das zuständige Landratsamt hatte dem Betroffenen einen Grad der Behinderung von 60 und das Merkzeichen „G“ anerkannt. Ursache dafür waren Einschränkungen durch einen bösartigen Tumor am rechten Oberschenkelknochen. Ärzte entfernten den Tumor in einer Operation und implantierten dem Betroffenen eine Prothese.
Bei Krebs gilt eine Heilungsbewährung
Bei der Feststellung des Grades einer Behinderung wegen einer Krebserkrankung gibt es die sogenannte Heilungsbewährung von maximal fünf Jahren. Nur so lange gilt der anerkannte GdB, und dann stellt das zuständige Amt den Grad der Behinderung neu fest. Dies ist in der Versorgungsmedizin-Verordnung geregelt.
Das begründet sich darin, dass Krebserkrankungen als grundsätzlich heilbar gelten. Mit einer erfolgreichen Therapie verbessern sich die Einschränkungen oder enden sogar gänzlich.
Grad der Behinderung von 30 ohne Merkzeichen
Bei der Nachprüfung stellte der zuständige Versorgungsarzt fest, dass für die Einschränkungen durch die Prothese ein Grad der Behinderung von 30 gelte und sah die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ nicht mehr als gegeben an. Das Landratsamt erteilte den neuen Grad der Behinderung nach diesem Gutachten.
Der Betroffene legte Widerspruch ein. Er begründete diesen damit, dass nicht alle Einschränkungen berücksichtigt seien. So hätte er durch die Operation auch eine größere Muskelmasse verloren, was ihn zusätzlich beeinträchtige.
Das Landratsamt untersuchte diese Beschwerden, erkannte diese auch an, wies den Widerspruch jedoch als unbegründet zurück. Denn diese zusätzlichen Beschwerden seien zwar vorhanden, würden aber weder einen höheren Grad der Behinderung noch das entsprechende Merkzeichen rechtfertigen.
Zudem sei die Muskelschwäche bei der Bewertung bereits berücksichtigt. Daraufhin klagte der Beeinträchtigte vor dem Sozialgericht und schließlich ging es zur Berufung vor das Landessozialgericht.
Das Landessozialgericht lehnt die Berufung ab
Vor dem Landessozialgericht argumentierte der Betroffene außerdem mit seinem Alter. So könne er als 26-jähriger Mensch wegen seiner Einschränkungen nicht ebenso beurteilt werden wie ein durchschnittlicher 70-Jähriger, da er altersspezifisch einen größeren Aktionsradius habe.
Die Richter stimmten zwar zu, dass es bei einer Behinderung auch eine Rolle spiele, wie sehr die körperlichen Funktionen, geistigen Fähigkeiten oder die seelische Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand abwichen.
Insofern hätte der Betroffene zwar recht, dass eine Behinderung auch hinsichtlich des Alters festzustellen sei. Diese Abweichung sei jedoch lediglich für die Frage relevant, ob überhaupt eine Behinderung vorliegt – nicht für den konkreten Grad.
Der festgestellte Grad der Behinderung ist altersunabhängig
Wenn jedoch eine Behinderung vorliege, dann seien ihre Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festzustellen. Die dabei gültigen Erfahrungswerte in den Tabellen der Versorgungsmedizin seien altersunabhängig. Für Erwachsene gelten hier einheitliche Maßstäbe – unabhängig davon, ob jemand 26 oder 70 Jahre alt ist.
Keine besonderen Komplikationen
Besonderheiten des Einzelfalls könnten den anerkannten Grad der Behinderung zwar beeinflussen, diese seien bei dem Betroffenen aber nicht vorhanden.
Eine solche Besonderheit liege in seinem Fall vor, wenn es bei der Implantation der Prothese Komplikationen gegeben hätte, die zu verstärkten Einschränkungen wie ungewöhnlichen Schmerzen führe. Bei ihm würde die Prothese hingegen ordnungsgemäß funktionieren.
Die Muskelschwäche bringe zwar Beeinträchtigungen mit sich beim Beinheben und der Kraft wie Ausdauer der Oberschenkel. Sie behindere die Beweglichkeit des Kniegelenks jedoch nur unwesentlich. Dies ergebe einen Grad der Behinderung von 20.
Der Grad der Behinderung von 20 wegen der Einschränkungen durch die Prothese und der Grad von 20 wegen der Muskelschwäche rechtfertigten in ihren Wechselwirkungen einen Gesamtgrad der Behinderung von 30. Das Gericht wendete dabei die sogenannte „GdB-Tabelle“ und die Grundsätze der GdB-Bildung bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen an.
Kein Merkzeichen „G“ ohne Schwerbehinderung
Das Merkzeichen „G“ setze voraus, dass der Betroffene eine Strecke von zwei Kilometern nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder Gefahr zurücklegen könne. Diese Voraussetzung sei bei ihm nicht mehr gegeben.
Darüber hinaus komme das Merkzeichen „G“ allein schon deswegen nicht in Betracht, da es bei Erwachsenen an eine Schwerbehinderung geknüpft sei, also an einen Grad der Behinderung von mindestens 50 (§ 146 SGB IX).
Die Einstufung des Grades der Behinderung ist pauschal und abstrakt
Der Verweis auf Behinderung als Abweichung vom typischen Zustand im jeweiligen Lebensalter beziehe sich darauf, ob eine Behinderung vorliegt. Das Lebensalter hätte aber keinen Einfluss auf den konkreten Grad der Behinderung.
Die Abstufung in Zehnergrade lasse eine pauschale und abstrakte Bewertung der Beeinträchtigung bei der Teilhabe zu. Im Unterschied zur Ansicht des Betroffenen werde die Einschränkung der Teilhabe nicht darüber hinaus individuell geprüft.
Keine Unterschiede beim Grad der Behinderung innerhalb der Erwachsenen
Der Grad der Behinderung werde bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gleich bemessen, und insofern käme eine weitere Aufspaltung innerhalb der Gruppe der Erwachsenen nicht in Betracht. Die Versorgungsmedizin-Verordnung unterscheidet hier nicht nach Altersgruppen innerhalb der Erwachsenen.




