Deutschland wirbt um Lehrkräfte, investiert Millionen in Kampagnen und Quereinstiegsprogramme – und schickt zugleich junge Menschen, die sich bewusst für diesen anspruchsvollen Beruf entschieden haben, in der Sommerpause ans Existenzminimum.
Was wie ein Widerspruch klingt, ist gelebte Praxis in mehreren Bundesländern: Referendarinnen und Referendare verlieren pünktlich mit dem Schuljahresende ihr Einkommen und landen für die Ferienzeit im Bürgergeld.
Der Fehler liegt nicht in individuellem Versagen, sondern in einer Systemlogik, die seit Jahren besteht und im Lichte des akuten Lehrermangels besonders irrational wirkt.
Inhaltsverzeichnis
Wie die Lücke entsteht
Betroffen sind Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst. Ihr Beschäftigungsverhältnis endet mit dem Schuljahr; die rund sechs Wochen Sommerferien sind arbeits- und einkommensfrei. Das gilt unabhängig davon, ob bereits eine feste Stelle ab dem neuen Schuljahr zugesagt ist.
Mit dem Ende des Referendariats reißt die Einkommenskette ab, obwohl die Betroffenen faktisch im Schulsystem bleiben. Es entsteht eine künstliche Bruchstelle, die den Übergang zwischen Ausbildung und Berufseintritt unnötig erschwert.
Zwischen Recht und Realität: Warum es kein Arbeitslosengeld I gibt
Anspruch auf Arbeitslosengeld I setzt in der Regel voraus, dass innerhalb eines bestimmten Zeitraums ausreichend Beiträge in die Arbeitslosenversicherung gezahlt wurden.
Genau hier kollidiert die rechtliche Konstruktion des Referendariats mit der Lebenswirklichkeit der Betroffenen. Viele waren im Vorbereitungsdienst verbeamtet und damit beitragsfrei gestellt, andere waren zwar angestellt, jedoch nicht lange genug versicherungspflichtig beschäftigt.
Die Folge: Die Versicherungsleistung greift nicht, es bleibt der Weg in das Bürgergeld – eine steuerfinanzierte Grundsicherung, die eigentlich das letzte Netz sein soll, nicht die Standardbrücke in einen Mangelberuf.
Vom Gehalt aufs Existenzminimum
Die unmittelbaren Auswirkungen sind handfest. Wer von heute auf morgen vom Vorbereitungsdienstgehalt auf das Bürgergeld zurückfällt, erlebt einen abrupten Einkommenseinbruch. Da Bewilligungen Zeit in Anspruch nehmen, öffnet sich häufig eine finanzielle Durststrecke, die nur mit privater Unterstützung überbrückt werden kann.
Von Ansparen zu sprechen, ist realitätsfern: Der Vorbereitungsdienst ist fordernd, die Bezahlung knapp bemessen, und die Lebenshaltungskosten steigen.
In dieser Lage zwingen die Strukturen junge Lehrkräfte zu Anträgen, Terminen und Nachweisen – just in einem Moment, in dem ihre Energie eigentlich der Vorbereitung des ersten Berufsjahres gelten sollte.
Regionale Unterschiede, gleiches Problem
Nicht alle Länder handhaben den Übergang identisch. In Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ist die Sommerlücke für Referendarinnen und Referendare besonders virulent. In Rheinland-Pfalz sind rund 2.000 Betroffene genannt, in Baden-Württemberg berichtet die GEW von etwa 4.000 Betroffenen pro Jahr.
Ende Juli 2025 kam es in Stuttgart zu Protesten, bei denen die Bezahlung der Sommerferien gefordert wurde. Der Befund ist überall derselbe: Ausgerechnet frisch ausgebildete Lehrkräfte, die das System dringend braucht, werden administrativ in eine Phase der Arbeitslosigkeit gedrängt. „Wertschätzung sieht anders aus“, kommentiert der GEW-Bundesvorstand – eine zugespitzte Formulierung, die dennoch den Kern trifft.
Das Kultusministerium in Baden-Württemberg erkennt darin keinen Widerspruch. Nach den Ferien warteten sichere Anstellungen, ein attraktives Gehalt und eine langfristige Perspektive.
Das mag ordnungspolitisch folgerichtig erscheinen, übersieht aber die Brückenfrage: Wer in den sechs Wochen ohne Einkommen steht, braucht jetzt Unterstützung – nicht die Aussicht auf Sicherheit morgen. Hinzu kommt ein erheblicher Verwaltungsaufwand.
Bis zum Berufsstart müssen zahlreiche Unterlagen eingereicht werden, darunter auch der Bürgergeldantrag. Für junge Lehrkräfte bedeutet das, zwischen Prüfungsvorbereitung, Unterrichtsplanung und Wohnungsorganisation zusätzlich einen bürokratischen Parcours zu bewältigen.
Bürokratie statt Bindung
Das Signal an die nächste Lehrergeneration ist fatal. Angehende Lehrkräfte erleben, dass ihr Einsatz in der Schule nicht mit einem verlässlichen Übergang honoriert wird, sondern mit Formularen, Wartezeiten und Kontenkahlschlag.
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Bescheid prüfenGleichzeitig belastet der Umweg über die Jobcenter eine Verwaltung, die ohnehin an Kapazitätsgrenzen arbeitet.
Ressourcen, die besser in Unterrichtsvorbereitung, Mentoring und Schulentwicklung fließen sollten, gehen in Antragsbearbeitung und Verrechnung auf. Das ist nicht nur unökonomisch, es ist demotivierend – und es verschärft das Rekrutierungsproblem, das man mit kostspieligen Kampagnen zu lösen versucht.
Die ökonomische Schieflage
Die Sommerlücke generiert volkswirtschaftlich ein Nullsummenspiel mit Reibungsverlusten. Was an Vergütung eingespart wird, taucht an anderer Stelle als Transferleistung wieder auf – flankiert von Verwaltungskosten und Produktivitätsverlusten.
Wer sich im Sommer auf den Schulstart vorbereitet, hospitiert oder Materialien erstellt, schafft realen Mehrwert. Das System vergütet diese Arbeit jedoch nicht, sondern externalisiert die Kosten auf die Betroffenen und die öffentliche Verwaltung.
Im Ergebnis spart der Staat kurzfristig Gehaltsmittel und zahlt zugleich Bürgergeld, während die Jobcenter Mehrarbeit leisten. Es ist schwer zu begründen, warum dieser Weg effizienter oder gerechter sein soll als eine durchgehende, planbare Bezahlung.
Pädagogische Realität: Unterrichtsvorbereitung kennt keine Ferien
Die Annahme, die Sommerzeit sei „arbeitsfrei“, hält der pädagogischen Praxis nicht stand. Der Übergang vom Referendariat ins volle Lehramt ist eine Phase intensiver Vorbereitung: Curricula werden gesichtet, Reihen geplant, Materialien erstellt, Elterngespräche und Konferenzen terminiert.
Wer Unterricht verantwortlich übernimmt, nutzt die Ferien, um professionell startklar zu sein. Das System, das diese Phase als Nullzeit behandelt, negiert die Realität schulischer Arbeit und die Professionalität der Lehrkräfte.
Reformoptionen liegen auf dem Tisch
Die Lösungsmöglichkeiten sind bekannt. Eine durchgehende Bezahlung bis zum Vertragsbeginn im neuen Schuljahr würde die Bruchstelle schließen und jungen Lehrkräften Planungssicherheit geben.
Alternativ ließe sich die Lücke mit befristeten Überbrückungsverträgen oder pauschalierten Übergangsleistungen schließen, die ohne den Umweg über das Bürgergeld auskommen.
Auch die rechtliche Gestaltung des Vorbereitungsdienstes ließe sich so anpassen, dass Anwartschaften in der Arbeitslosenversicherung entstehen, ohne den beamtenrechtlichen Rahmen grundsätzlich zu sprengen. Zentral ist weniger die juristische Form als das Ergebnis: ein nahtloser, würdevoller Übergang von der Ausbildung in den Beruf.
Verantwortung von Ländern und Kommunen
Weil Schulpolitik Ländersache ist, liegt die Verantwortung primär bei den Ländern. Doch Kommunen und Schulträger spüren die Folgen, wenn Stellen unbesetzt bleiben oder Neueinsteiger demotiviert starten.
Ein koordiniertes Vorgehen, das landesrechtliche Spielräume nutzt und bundesrechtliche Hürden adressiert, wäre ein starkes Signal. Der Lehrkräftemangel ist kein kurzfristiger Ausreißer, sondern eine strukturelle Herausforderung. Wer ihn ernst nimmt, beseitigt systemische Reibungen – zuerst dort, wo sie den Berufseintritt behindern.
Ein Appell an die Glaubwürdigkeit
Wer um Lehrkräfte wirbt, sollte sicherstellen, dass diejenigen, die sich für diesen Beruf entscheiden, nicht ausgerechnet beim Eintritt ins System in die Grundsicherung fallen.
Es geht um mehr als Geld: Es geht um Respekt vor professioneller Arbeit, um kluge Verwaltung und um die Attraktivität eines Berufs, der für die Zukunft des Landes zentral ist. Ein Bildungssystem, das Sommerferien als Sparfenster nutzt, sendet das falsche Signal – an die, die bleiben sollen, und an die, die man noch gewinnen will.
Fazit: Der Fehler ist systemisch – und korrigierbar
Die Sommerlücke für Referendarinnen und Referendare ist kein Randphänomen, sondern eine systemische Inkonsistenz mit hohen Folgekosten. Sie schwächt die Bindung junger Lehrkräfte, belastet Verwaltungen und konterkariert teure Werbemaßnahmen.
Die Korrektur ist möglich: durchgehende Bezahlung, pragmatische Übergangsmodelle und eine Anerkennung der realen Arbeit in den Ferien. Wer den Lehrkräftemangel ernsthaft angehen will, beginnt hier – bei einem kleinen, aber symbolisch wie praktisch entscheidenden Reformschritt.