Schwerbehinderung: Besetzte Stellen gelten für behinderte Arbeitnehmer als frei – Wegweisend

Lesedauer 3 Minuten

Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz hat mit einem Urteil vom 04.07.2023 (8 Sa 60/23) ein weitreichendes Signal gesetzt: Schwerbehinderte und gleichgestellte Beschäftigte dürfen nicht aus dem Unternehmen gedrängt werden, nur weil sie ihre bisherigen Aufgaben nicht mehr gesundheitlich erledigen könne.

Arbeitgeber müssen sich hingegen ernsthaft und umfassend um eine Weiterbeschäftigung bemühen. Sie können nach diesem Urteil den Kündigungsschutz für Mitarbeiter mit Schwerbehinderung nicht mehr durch geschickte Personalentscheidungen aushebeln.

Krankheit, Eingliederung und Qualifizierung: Wie es zu der Kündigung kam

Die Klägerin, eine gleichgestellte schwerbehinderte Assistentin der Marktleitung, fiel längere Zeit krankheitsbedingt aus. Dennoch zeigte sie Engagement und bekundete frühzeitig ihr Interesse an einer neuen Perspektive: einer administrativen Tätigkeit. Eine medizinische Einschätzung bestätigte später, dass sie weiterhin arbeitsfähig sei – jedoch nur in einer überwiegend sitzenden Funktion.

Arbeitgeber besetzt mögliche Arbeitsplätze mit nicht-behinderten Beschäftigten

Während ihrer mehrmonatigen Qualifizierung zur Bürokraft besetzte der Arbeitgeber allerdings mehrere geeignete Büroarbeitsplätze mit anderen Mitarbeitenden. Im anschließenden betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) behauptete er, die gesundheitliche Situation der Betroffenen habe sich weiter verschlechtert.

Mit dieser Begründung kündigte er der gleichgestellten Arbeitnehmerin. Die Gekündigte klagte vor Gericht, und der Fall ging bis in die zweite Instanz, vor das Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz. Das LAG erklärte diese Kündigung für sozial ungerechtfertigt und damit unwirksam.

Freier Arbeitsplatz: LAG definiert Begriff weit über den Normalfall hinaus

Streitpunkt war der Kündigungsschutz für Menschen mit Schwerbehinderung. So ist der Arbeitgeber verpflichtet, bevor er eine Kündigung ausspricht, schwerbehinderten Beschäftigten eine leidensgerechte Stelle im Unternehmen anzubieten – sofern ein solcher Arbeitsplatz existiert.

Nach Auffassung des Gerichts umfasst ein „freier Arbeitsplatz“ allerdings nicht nur einen unbesetzten Platz. Ein Arbeitsplatz gilt auch dann als frei, wenn der Arbeitgeber ihn treuwidrig besetzt hat – also bewusst in Kenntnis der Situation, um eine Weiterbeschäftigung zu verhindern.

Damit stellt das Gericht klar: Arbeitgeber dürfen freie Positionen nicht erst strategisch besetzen, um anschließend eine Kündigung mit angeblicher „Alternativlosigkeit“ zu begründen.

Arbeitgeberpflichten: Weiterbeschäftigung geht vor Kündigung

Die Prüfung alternativer Arbeitsplätze ist gesetzlich zwingend vorgeschrieben. Sobald absehbar ist, dass ein schwerbehinderter Mensch seine ursprüngliche Tätigkeit nicht mehr ausüben kann, muss der Arbeitgeber aktiv nach einer leidensgerechten Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz suchen.

Dabei hat er nicht nur das bestehende Tätigkeitsprofil zu berücksichtigen, sondern muss auch veränderte oder vertragsfremde Aufgaben in Betracht ziehen. Nur, wenn diese nicht vorhanden sind, ist eine Kündigung wegen fehlender Möglichkeit der Weiterbeschäftigung wirksam.

Treuwidriges Verhalten: Wenn taktische Personalpolitik zur Falle wird

Im vorliegenden Fall qualifizierte sich die Arbeitnehmerin gezielt für einen Bürojob. Trotzdem besetzte der Arbeitgeber diese möglichen Arbeitsplätze parallel – ein klarer Hinweis auf treuwidriges Verhalten. Das LAG stellte fest, dass diese Strategie den Kündigungsschutz leerlaufen lassen sollte.

Das Gericht sendete eine klare Botschaft: Wer Arbeitsplätze für schwerbehinderte Beschäftigte blockiert, verstößt gegen Treu und Glauben und riskiert die Unwirksamkeit einer späteren Kündigung.

Hintergrund: Welche Tätigkeiten sich für schwerbehinderte Beschäftigte eignen

Die Praxis zeigt, wie vielfältig die Möglichkeiten sind, schwerbehinderte Beschäftigte weiter zu integrieren. So kann eine körperlich belastende Tätigkeit problemlos durch administrative Aufgaben ersetzt werden – etwa durch Bestell- und Warenverwaltung, Dokumentationsarbeit oder organisatorische Unterstützung der Marktleitung.

Auch der Kundenservice, etwa per Telefon oder digitalem Support, eignet sich bei eingeschränkter Mobilität als Alternative. Beschäftigte mit viel Erfahrung können zudem neue Mitarbeitende einarbeiten oder interne Schulungen übernehmen – ein Mehrwert für das Unternehmen.

Manchmal genügt sogar eine Anpassung des bestehenden Arbeitsplatzes: ergonomische Ausstattung, Entlastung durch andere Teammitglieder oder eine Umstrukturierung der Aufgaben können eine Weiterbeschäftigung ermöglichen, ohne die professionelle Rolle komplett zu verändern.

FAQ: Die fünf zentralen Fragen zum Kündigungsschutz bei Schwerbehinderung

1. Ist die Kündigung schwerbehinderter Beschäftigter völlig ausgeschlossen?
Nein, aber sie ist nur als letztes Mittel möglich. Vorher muss das Integrationsamt zustimmen, und der Arbeitgeber muss alle Alternativen geprüft haben.

2. Muss der Arbeitgeber auch andere Aufgaben anbieten als die bisherigen?
Ja. Er ist verpflichtet, auch vertragsfremde und modifizierte Tätigkeiten in Betracht zu ziehen, sofern diese behinderungsgerecht und zumutbar sind.

3. Wann gilt ein Arbeitsplatz als „frei“?
Nach dem Urteil auch dann, wenn der Arbeitgeber ihn treuwidrig besetzt hat, obwohl er wusste, dass die schwerbehinderte Beschäftigte diesen Platz benötigen würde.

4. Welche Bedeutung hat das BEM für die Wirksamkeit einer Kündigung?
Ein BEM darf kein formaler Vorgang sein. Es muss ernsthaft prüfen, wie eine weitere Beschäftigung möglich ist. Ein schlecht durchgeführtes BEM macht eine Kündigung angreifbar.

5. Welche Folgen hat es, wenn der Arbeitgeber keine Weiterbeschäftigung prüft?
Die Kündigung ist dann häufig unwirksam, weil sie nicht sozial gerechtfertigt ist. Der Arbeitgeber muss im Streitfall beweisen, dass alle Alternativen ausgeschöpft wurden.

Fazit: Was bedeutet dieses Urteil für Betroffene?

Das Urteil stärkt schwerbehinderte und gleichgestellte Beschäftigte entscheidend. Unternehmen können sich nicht länger auf angeblich fehlende freie Stellen berufen, wenn sie diese parallel anderweitig besetzen. Für Betroffene bedeutet das mehr Sicherheit, mehr Transparenz und mehr Chancen auf eine faire Weiterbeschäftigung.

Die Entscheidung des LAG Rheinland-Pfalz zwingt Arbeitgeber dazu, umfassend und ehrlich zu prüfen, wie ein Verbleib im Betrieb möglich ist. Damit wird der Kündigungsschutz nicht nur rechtlich gestärkt – er wird praktisch wirksam.

Kurz gesagt: Das Urteil schützt Betroffene vor taktischer Personalpolitik und sorgt dafür, dass Inklusion im Arbeitsleben nicht nur ein Ziel bleibt, sondern umgesetzt werden muss.