Neuregelungen zur Auszahlung von Kindergeld und Kinderzuschlag ab 2026 rechtswidrig

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Die Auszahlung von Kindergeld und Kinderzuschlag wird verรคndert. Parallel zur Abschaffung des Barscheckverfahrens hat sich die Bundesagentur fรผr Arbeit (BA) im Rahmen des SGB VI-Anpassungsgesetzes eine Sonderregelung ins Bundeskindergeldgesetz (BKGG) schreiben lassen.

Kรผnftig soll sozialrechtliches Kindergeld und der Kinderzuschlag ausschlieรŸlich auf ein Konto รผberwiesen werden โ€“ abweichend von den allgemeinen Vorschriften des Sozialgesetzbuchs.

Fรผr Betroffene, die aus tatsรคchlichen oder rechtlichen Grรผnden kein Konto erรถffnen kรถnnen, droht damit eine gravierende Verschรคrfung ihrer ohnehin prekรคren Situation. Sozialverbรคnde und Beratungsstellen sehen die Gefahr, dass hier ein rechtlicher Ausnahmeweg geschaffen wird, der das sozialrechtliche Einzelfallprinzip und die verfassungsrechtlich garantierte Sicherung der Existenz berรผhrt.

Abschaffung des Barscheckverfahrens mit Folgen

Ausgangspunkt ist die Einstellung des Barscheckverfahrens (ZzV). Jobcenter und Sozialรคmter haben angekรผndigt, ab Oktober 2025 keine Verrechnungsschecks mehr zu nutzen, weil die Postbank dieses Produkt nicht lรคnger anbietet.

Bislang dienten Barschecks und vergleichbares dazu, Leistungsberechtigten ohne Konto dennoch Zugang zu Leistungen zu verschaffen. Gerade fรผr Menschen, die von Bรผrgergeld, Sozialhilfe oder anderen existenzsichernden Leistungen abhรคngig sind, war dies oft der einzige praktische Weg, um an das ihnen zustehende Leistung zu kommen.

Damit stellt sich nun die Frage: Wie gelangen Personen ohne Konto kรผnftig an existenzsichernde Leistungen, wenn das Barscheckverfahren entfรคllt โ€“ und der Gesetzgeber gleichzeitig alternative Wege verengt statt sie zu sichern?

Nach geltendem Recht ist die Lage eigentlich eindeutig. ยง 47 Absatz 1 Satz 1 SGB I verpflichtet Sozialleistungstrรคger, Geldleistungen entweder auf ein vom Leistungsberechtigten angegebenes Konto zu รผberweisen oder โ€“ auf Verlangen โ€“ an den Wohnsitz oder gewรถhnlichen Aufenthalt zu รผbermitteln.

Diese รœbermittlung kann unterschiedlich gestaltet werden: etwa durch Barschecks, Barauszahlung in der Behรถrde, Kooperation mit Geldinstituten oder andere organisatorische Lรถsungen. Das Bundesministerium fรผr Arbeit und Soziales (BMAS) hat in einer Weisung vom 4. Juni 2025 ausdrรผcklich klargestellt, dass auch Barauszahlungen in den Behรถrden mรถglich sind.

Im Referentenentwurf zum SGB VI-Anpassungsgesetz war zudem vorgesehen, ยง 47 SGB I um einen Satz 2 zu ergรคnzen. Danach sollten Leistungstrรคger verpflichtet sein, Geldleistungen kostenfrei an den Wohnsitz oder gewรถhnlichen Aufenthalt zu รผbermitteln, wenn die betroffene Person nachweist, dass ihr die Einrichtung eines Kontos ohne eigenes Verschulden nicht mรถglich ist.

Damit hรคtte der Gesetzgeber den Grundsatz ausdrรผcklich bekrรคftigt, dass fehlende Kontoverbindung nicht zu Leistungsausschlรผssen fรผhren darf. Sozialrechtliche Leistungen dienen dem Lebensunterhalt und mรผssen real erreichbar sein โ€“ auch dann, wenn Menschen an den institutionellen Hรผrden des Finanzsystems scheitern.

Die Neuregelung im BKGG: AusschlieรŸliche Kontoรผberweisung

Genau an dieser Stelle setzt nun die neue Sonderregelung im Bundeskindergeldgesetz an. In der Beschlussempfehlung des Ausschusses fรผr Arbeit und Soziales zum SGB VI-Anpassungsgesetz wird ein neuer ยง 11 Absatz 3 BKGG eingefรผgt. Dort heiรŸt es:

โ€žAbweichend von ยง 47 Absatz 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch werden das sozialrechtliche Kindergeld und der Kinderzuschlag ausschlieรŸlich auf das angegebene Konto bei einem Geldinstitut, fรผr das die Verordnung (EU) Nr. 260/2012 gilt, รผberwiesen. Die รœberweisung erfolgt kostenfrei.โ€œ

Die Vorschrift ist als ausdrรผckliche Abweichung von ยง 47 SGB I formuliert. Damit wird der allgemeine sozialrechtliche Anspruch auf รœbermittlung an den Wohnsitz in diesem Bereich auรŸer Kraft gesetzt. Vorgesehen ist, dass die ร„nderung โ€“ eingebettet in ein groรŸes Artikelgesetz zur Anpassung des Rentenrechts โ€“ zum 1. Januar 2026 in Kraft tritt.

Faktisch bedeutet dies: Fรผr Kindergeld und Kinderzuschlag soll es kรผnftig keine andere Auszahlungsform mehr geben als die รœberweisung auf ein Konto im SEPA-Raum. Wer kein solches Konto angeben kann, erhรคlt die Leistung nicht โ€“ jedenfalls nicht auf dem gesetzlich vorgesehenen Standardweg.

Bundesagentur fรผr Arbeit: Entlastung statt Problemlรถsung?

Aus den Unterlagen und der zeitlichen Abfolge wird deutlich, dass die Initiative fรผr die BKGG-Sonderregelung wesentlich von der Bundesagentur fรผr Arbeit ausgegangen ist. Die BA ist bundesweit fรผr die Auszahlung des sozialrechtlichen Kindergeldes und des Kinderzuschlags zustรคndig; sie trรคgt die organisatorische und technische Verantwortung fรผr diese Leistungen.

Kritiker wie der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt werfen der BA vor, sich durch die neue Regelung von den Problemen derjenigen Menschen zu โ€žbefreienโ€œ, die kein Konto erรถffnen kรถnnen. “Statt Lรถsungen fรผr diese Gruppe zu entwickeln, verlagere man das Problem in den gesetzlichen Raum: Wer kein Konto hat, passe schlicht nicht mehr in das vorgesehene Auszahlungsmodell”, so Anhalt.

Damit verschiebt sich der Blick. Nicht mehr die Frage, wie der Leistungstrรคger seine gesetzliche Verpflichtung gegenรผber einer besonders verletzlichen Personengruppe erfรผllen kann, steht im Vordergrund, sondern die technische und organisatorische Vereinfachung der Verwaltung. Fรผr die betroffenen Familien ist dies mehr als eine Formalie: Es geht um Zahlungen, die unmittelbar zum Lebensunterhalt der Kinder beitragen.

Wer kein Konto hat: Lebenslagen, die aus dem Leistungssystem gedrรคngt werden

Die Neuregelung blendet eine Realitรคt aus, die in der sozialen Beratung seit Jahren sichtbar ist. Menschen ohne Konto sind keine Ausnahmeerscheinung, sondern ein fester Bestandteil der Klientel von Sozialรคmtern, Jobcentern und Familienkassen.

Betroffen sind zum Beispiel Geflรผchtete mit ungeklรคrtem Aufenthaltsstatus oder fehlenden Ausweisdokumenten. Hรคufig verweigern Banken in solchen Fรคllen die Kontoerรถffnung, obwohl es mit dem Basiskonto nach dem Zahlungskontengesetz einen Rechtsanspruch auf ein Konto mit grundlegenden Funktionen gibt.

Auch Wohnungslose, Menschen mit massiven Schuldenproblemen oder Personen mit laufenden Pfรคndungen stoรŸen regelmรครŸig auf praktische oder formale Hรผrden bei der Kontoerรถffnung. Wir haben hรคufig davon berichtet, dass Verschuldeten ein P-Konto verweigert wird.

Hinzu kommen Menschen, die aufgrund psychischer Erkrankungen, fehlender Sprachkenntnisse oder traumatischer Erfahrungen nicht in der Lage sind, sich durch den mitunter schweren Prozess der Kontoerรถffnung zu kรคmpfen.

Gerade in diesen Fรคllen wรผrde das Einzelfallprinzip des Sozialrechts eigentlich verlangen, dass die Verwaltung besondere Anstrengungen unternimmt, den Leistungszugang dennoch sicherzustellen.

Die geplante BKGG-Regelung dreht diese Perspektive um. Sie erklรคrt faktisch, dass die Leistung nur noch fรผr diejenigen erreichbar ist, die ein Konto nachweisen kรถnnen. Wer aus welchen Grรผnden auch immer daran scheitert, gerรคt in eine gefรคhrliche Lรผcke zwischen sozialrechtlichem Anspruch und technischer Umsetzung.

Konflikt mit sozialrechtlichen Grundprinzipien

Im deutschen Sozialrecht gilt der Grundsatz, dass รผber Ansprรผche im Einzelfall zu entscheiden ist. Verwaltungspraxis und Gesetzesauslegung mรผssen die konkrete Lebenssituation der betroffenen Person berรผcksichtigen.

Dieses findet sich in zahlreichen Vorschriften, etwa im Beratungs- und Unterstรผtzungsauftrag der Leistungstrรคger (ยง 14 SGB I), in der Pflicht zur umfassenden Aufklรคrung des Sachverhalts (ยง 20 SGB X) und im sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, der Fehler und Versรคumnisse der Verwaltung ausgleichen soll.

Eine starre gesetzliche Regelung, die eine Leistung unabhรคngig von der individuellen Lage ausschlieรŸlich an das Vorhandensein eines Bankkontos knรผpft, steht in Spannung zu diesem Verstรคndnis. Sie ignoriert, dass das Fehlen eines Kontos gerade Ausdruck einer sozialen Problemlage sein kann, auf die das Sozialrecht reagiert, statt sie zu verschรคrfen.

Hinzu kommt, dass die Neuregelung wohlmรถglich gegen die Verfassung verstรถรŸt. Kindergeld und Kinderzuschlag sind Teil des Systems zur Sicherung des kindlichen Existenzminimums.

Sie flankieren sowohl das Steuerrecht als auch die existenzsichernden Leistungen wie Bรผrgergeld und Sozialhilfe. Wird der Zugang zu diesen Leistungen durch formale Hรผrden blockiert, kann dies den Anspruch auf Gewรคhrleistung eines menschenwรผrdigen Existenzminimums berรผhren, den das Bundesverfassungsgericht aus Artikel 1 und Artikel 20 Grundgesetz herleitet.

Rechtliche Zweifel an der BKGG-Sonderregelung

Sozialrechtlich wirft die geplante Vorschrift eine Reihe von Fragen auf. Sie ist als โ€žabweichend von ยง 47 Absatz 1 SGB Iโ€œ formuliert und soll damit den allgemeinen sozialrechtlichen Auszahlungsweg fรผr Kindergeld und Kinderzuschlag รผberlagern.

Fraglich ist, ob der Gesetzgeber auf diese Weise das Schutzkonzept des SGB I in einem so sensiblen Bereich beschneiden darf, ohne zugleich einen gleichwertigen alternativen Zugang vorzusehen, findet auch der Sozialberater Harald Thomรฉ von Tacheles e.V..

Denkbar ist, dass Gerichte die Regelung verfassungskonform auslegen und zu dem Ergebnis kommen, dass sie zwar den Regelfall der Kontoauszahlung festlegt, im Extremfall aber Ausnahmen zulassen muss, wenn andernfalls die Sicherung des Existenzminimums gefรคhrdet wรคre.

Ebenso mรถglich ist, dass Sozialgerichte die Vorschrift dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, wenn sie in konkreten Streitfรคllen nicht mit den Grundrechten vereinbar erscheint.

Schon jetzt ist absehbar, dass bei einer strikten Anwendung der Norm zahlreiche Eilrechtsschutzverfahren entstehen werden. Familien ohne Konto, deren Kindergeld oder Kinderzuschlag nicht mehr ausgezahlt wird, werden auf schnelle gerichtliche Entscheidungen angewiesen sein.

Bereits im Zusammenhang mit der Abschaffung des Barscheckverfahrens empfehlen Beratungsstellen, bei verweigerter Auszahlung umgehend eine einstweilige Anordnung beim Sozialgericht zu beantragen.

Doppeltes Risiko fรผr Familien mit niedrigem Einkommen

Die besondere Brisanz ergibt sich daraus, dass Kindergeld und Kinderzuschlag eng mit anderen Sozialleistungen verflochten sind. In der Grundsicherung fรผr Arbeitsuchende und in der Sozialhilfe wird Kindergeld als Einkommen angerechnet.

Bleibt die Auszahlung aus, obwohl das Jobcenter es als Einkommen berรผcksichtigt, entsteht fรผr die Familie eine finanzielle Lรผcke โ€“ die Leistungen werden gekรผrzt, obwohl das angerechnete Geld tatsรคchlich gar nicht zur Verfรผgung steht.

Beim Kinderzuschlag wirkt die Problematik รคhnlich: Er soll verhindern, dass Familien allein wegen der Unterhaltslast fรผr ihre Kinder in den Bezug von Bรผrgergeld rutschen. Fรคllt der Zuschlag wegen fehlender Kontoverbindung praktisch weg, geraten diese Haushalte besonders schnell in finanzielle Not. Das Risiko von Mietrรผckstรคnden, Energieschulden und weiterer Verschuldung steigt.

Gerade bei Menschen ohne stabile soziale Netze fรผhrt die Kombination aus rechtlichen Hรผrden und bรผrokratischer Strenge hรคufig zu einem Abbruch des Kontakts mit den Behรถrden. Wer wiederholt erlebt, dass formale Anforderungen wichtiger sind als die Sicherung des Lebensunterhalts der Kinder, verliert Vertrauen in die Institutionen โ€“ mit langfristigen Folgen fรผr Teilhabe, Integration und soziale Stabilitรคt.

Was kรถnnen Betroffene nun tun?

Auch wenn die Neuregelung auf den ersten Blick eine klare und starre Vorgabe formuliert, bleibt betroffenen Personen und ihren Unterstรผtzerinnen und Unterstรผtzern Handlungsspielraum. Bereits heute empfiehlt es sich, jeden Versuch einer Kontoerรถffnung sorgfรคltig zu dokumentieren โ€“ einschlieรŸlich Ablehnungsschreiben der Banken, Nachweisen รผber fehlende Dokumente oder Zeugenaussagen von Beratungsstellen.

Sollten Familienkassen trotz nachgewiesener Unmรถglichkeit der Kontoerรถffnung die Auszahlung von Kindergeld oder Kinderzuschlag verweigern, ist die Erhebung eines Eilantrags beim Sozialgericht ein naheliegender Schritt. Im Verfahren kann geltend gemacht werden, dass eine strikte Anwendung der BKGG-Sonderregelung in diesen Konstellationen unverhรคltnismรครŸig ist und verfassungsrechtliche Schutzpflichten verletzt.