Schwerbehinderung: Anspruch auf rückwirkenden Mehrbedarf für das Merkzeichen G

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Ein Mehrbedarf für schwerbehinderte Menschen nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII ist auch für rückwärtige Zeiträume zu gewähren, in denen der Betroffene Leistungen nach dem SGB II bezogen hat.

Denn maßgeblich für das Entstehen des Anspruchs auf einen pauschalierten Mehrbedarf wegen Zuerkennung des Merkzeichens “G” bei voller Erwerbsminderung ist der Zeitpunkt des Eintritts der vollen Erwerbsminderung, nicht die Bekanntgabe des Bescheids des Rentenversicherungsträgers.

So entschieden vom Bundessozialgericht mit Urteil vom 06.10.2022 – B 8 SO 1/22 R –

Begründung

Entgegen der Auffassung des Sozialhilfeträgers ist maßgeblich für das Vorliegen der vollständigen Erwerbsminderung nicht der Zeitpunkt der entsprechenden Feststellung im Bescheid des Rentenversicherungsträgers

Denn § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII stellt – nicht auf den Zeitpunkt einer bescheidmäßigen Feststellung der vollen Erwerbsminderung ab, sondern darauf, dass Personen, die die Altersgrenze nach § 41 Abs 2 SGB XII noch nicht erreicht haben, voll erwerbsgemindert nach dem SGB VI sind.

Es fehlt es auch nicht am erforderlichen Antrag – so aber die Vorinstanz das Sächsische LSG

Denn der Mehrbedarf auf Antrag gewährt, Kenntnis i. S. des § 18 SGB XII reicht insoweit nicht.

Indem der Kläger unter Hinweis auf die langanhaltende Arbeitsunfähigkeit und eine fortschreitende Erkrankung eine SGB-XII-Leistung beantragt hat, ist der erforderliche Antrag auch auf Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII gestellt gewesen.

Denn Anträge als empfangsbedürftige einseitige Willenserklärungen werden nach dem objektiven Empfängerhorizont und nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung ausgelegt. Beantragt ist das, was nach Lage des Falles vernünftigerweise in Betracht kommt.

Das Jobcenter hatte hier nicht nur Kenntnis der anhaltenden Arbeitsunfähigkeit des Klägers, sondern ging im Widerspruchsbescheid auch selbst von einem schweren Verlauf der Krebserkrankung aus, somit waren die für den Anspruch auf Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII relevanten Anhaltspunkte mehr als deutlich.

Der Antrag ist in den Räumlichkeiten und damit im Machtbereich des Beklagten eingegangen; auf eine fehlende Weiterleitung kommt es deshalb nicht an.

Wollte man dies anders sehen, bestünde jedenfalls Kenntnis (§ 18 Abs 1 SGB XII) von der Bedarfslage beim Jobcenter, die sich der Beklagte zurechnen lassen muss (dazu bereits BSG vom 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R -).

Anmerkung Sozialrechtsexperte Detlef Brock

§ 18 Abs. 1 SGB XII erfordert keine Antragstellung oder sonstige Initiative des Leistungsberechtigten.

Ausreichend ist die Kenntnis des Sozialhilfeträgers von einem Kern an Tatsachen, der die Notlage in ihren wesentlichen Grundlagen beschreibt.

Im Grundsatz vermittelt ein Antrag auf SGB II die notwendige Kenntnis für einen entsprechenden Anspruch nach dem SGB XII (vgl § 18 SGB XII), der bei einem Leistungsausschluss im SGB II dem Grunde nach (vgl § 5 Abs 2 SGB II und § 21 SGB XII) bestehen kann (vgl zuletzt BSG vom 6.10.2022 – B 8 SO 1/22 R -, BSG, Beschluss v. 29.02.2024 – B 8 SO 20/22 B – ).

Im Fall der rückwirkenden Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht für diesen Zeitraum kein Anspruch mehr auf weitere Leistungen nach dem SGB II.

Vielmehr richtet sich der weitere Leistungsanspruch nach dem SGB XII ( BSG, Urteil vom 11. November 2021 – B 14 AS 89/20 R – ).

Fazit

Bei einer nachträglich festgestellten Rente wegen voller Erwerbsminderung ist nicht auf den Zeitpunkt der Rentenfeststellung, sondern auf die tatsächliche Bedarfslage an.

Die Bedarfslage ist unabhängig von einer bescheidmäßigen Feststellung der vollen Erwerbsminderung (BSG, Urteil vom 6. Oktober 2022 – B 8 SO 1/22 R; Wrackmeyer-Schoene in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Auflage 2020, § 30, Rn. 12).

Der Sozialhilfeträger muss sich die Antragstellung beim Jobcenter und dessen Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit zurechnen lassen (§ 16 Abs 2 SGB I), vgl. zuletzt LSG Sachsen L 5 AS 264/20 ).

Diese Vorschrift greift auch dann ein, wenn ein Antrag nicht bei einer unzuständigen Stelle, sondern bei einem SGB II-Träger eingeht.

Dabei ist unerheblich, ob dieser aufgrund der Regelung des § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II zuständig ist oder sich fälschlich für leistungszuständig gehalten hat.

Dies gilt in besonderer Weise für das Verhältnis von Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII.

Im Zweifel ist insofern davon auszugehen, dass ein Antrag auf Leistungen nach dem einen Gesetz wegen der gleichen Ausgangslage (Bedürftigkeit und Bedarf) auch als Antrag nach dem anderen Gesetz zu werten isi ( vgl. BSG, Urteil vom 26. August 2008 – B 8/9b SO 18/07 R – ).

Was gilt jetzt für Bürgergeldempfänger

Sollte sich während des Leistungsbezugs von ALG 2 heraus stellen, dass euch rückwirkend eine volle Erwerbsminderung zugesprochen wird, ist nicht mehr das Jobcenter für Euch zuständig, sondern das Sozialamt.

Sollte während des ALG II Bezugs ein Antrag auf den Mehrbedarf für das Merkzeichen G beim JC gestellt worden sein, ist dieser Euch denn auch – rückwirkend zu gewähren.

Denn auch das BSG geht davon aus, dass (rückwirkend) ein Anspruch gegen den nach Feststellung der Erwerbsminderung zuständig gewordenen SGB XII-Träger besteht.

Dem stehe nicht entgegen, dass für den rückliegenden Zeitraum Leistungen nach dem SGB II gewährt worden waren.

Maßgeblich sei nicht der Zeitpunkt der Feststellung im Bescheid eines Rentenversicherungsträgers, sondern wann tatsächlich eine Erwerbsminderung eingetreten sei.