Schwerbehinderte musste sich immer tragen lassen – Gericht schritt ein

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Eingliederungshilfe: Schwerbehinderte muss sich nicht von Pflegekräften in die Wohnung ihrer Freundin tragen lassen – unzumutbar

Einer Schwerstbehinderten ist es nicht zumutbar, wenn sie von ihren Pflegekräften über die Schwelle der Wohnung ihrer Freundin getragen wird, denn auch bei der Pflege dieses Kontaktes handelt es sich um ein angemessenes Teilhabeziel.

Für eine Schwerstbehinderte mit Pflegegrad 5 ist es unzumutbar, die Wohnung ihrer Freundin auf Dauer, wie bislang, nur mit Hilfe ihrer Pflegekräfte, die diese über die Schwelle tragen, und sodann ohne eigenständige Mobilität in der Wohnung aufzusuchen. Sie kann auch nicht darauf verwiesen werden, die Freundin nur in der eigenen Wohnung oder im Außenbereich zu treffen.

Als angemessenes Teilhabeziel sind insbesondere auch die Besuche in der Wohnung der Mutter zur Aufrechterhaltung der familiären Bindung anzuerkennen.

Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern (§ 90 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Die Eingliederungshilfe umfasst Leistungen zur Sozialen Teilhabe (§ 102 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX). Diese werden erbracht, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern.

Hierzu gehört, Leistungsberechtigte zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX).

Der Leistungsumfang umfasst dabei auch Hilfsmittel, welche erforderlich sind, um eine durch die Behinderung bestehende Einschränkung einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auszugleichen (vgl. § 113 Abs. 2 Nr. 8 und Abs. 3 SGB IX i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 1 SGB IX).

Das gibt aktuell die 28. Kammer des Sozialgerichts Hamburg bekannt ( SG Hamburg, Urteil vom 23.07.2025 – S 28 SO 488/23 D – )

Kurzbegründung des Gerichts

Versorgung der Schwerbehinderten ( Klägerin ) mit einem Aktivrollstuhl zusätzlich zum vorhandenen Elektrorollstuhl

§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V – Hilfsmittel der Krankenversicherung

Es handelt es sich bei dem begehrten Rollstuhl, der im Hilfsmittelverzeichnis geführt ist, um ein Hilfsmittel in diesem Sinne. Zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehört im Bereich des hier einschlägigen mittelbaren Behinderungsausgleichs (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V) ein Anspruch auf Versorgung mit solchen Hilfsmitteln, die ihrem Zweck nach die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigen oder mindern und damit der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens und einem möglichst selbstbestimmten und selbständigen Leben dienen.

Die Klägerin hat nicht zur Überzeugung des Gerichts dargelegt, dass sie nach diesen Maßstäben auf die Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel angewiesen ist. Das unmittelbare Wohnumfeld kann sie bereits nach ihrem eigenen Vortrag mit dem vorhandenen Elektrorollstuhl erschließen. Auch die Hausarztpraxis kann mit dem Elektrorollstuhl aufgesucht werden.

Sie hat jedoch Anspruch nach den Vorschriften der Eingliederungshilfe (§ 99 i.V.m. §§ 90 Abs. 1, 102 Abs. 1 Nr. 4, § 113 Abs. 1 und 2 Nr. 8, § 113 Abs. 3 i.V.m. § 84 SGB IX).

Ziel der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist es den Leistungsberechtigten die in ihrer Altersgruppe üblichen gesellschaftlichen Kontakte mit Menschen zu ermöglichen und hierdurch nachvollziehbare soziale Teilhabebedürfnisse zu erfüllen (vgl. BSG vom 28.1.2021 – B 8 SO 9/19 R – ).

Umfasst ist von der Förderung der Begegnung und des Umgangs mit nichtbehinderten Menschen auch die Kontaktpflege zu Familie als Kernbereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, um Isolation und Vereinsamung zu verhindern.

Grundsätzlich ist gerade die Förderung dieses Kontakts für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen mit Behinderung notwendig (vgl. BSG vom 27.2.2025 – B 8 SO 10/23 R – )

Leistungen zur Sozialen Teilhabe umfassen darüber hinaus Leistungen, denen als Teilhabeziel das Bedürfnis nach Freizeit und Freizeitgestaltung zu Grunde liegt. Freizeit ist die Zeit, über die frei verfügt und die selbstbestimmt gestaltet werden kann, da sie nicht durch fremdbestimmte Verpflichtungen oder zweckgebundene Tätigkeiten geprägt ist. In ihrer Freizeit können Menschen sozialen, sportlichen, kulturellen, kreativen, bildenden und rekreativen Aktivitäten individuell oder gemeinschaftlich nachgehen.

Freizeit hat nicht nur Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung eines behinderten wie eines nichtbehinderten Menschen, sondern erweitert auch den möglichen Spielraum sozialer Teilhabe.

In welchem Maß und durch welche Aktivitäten ein behinderter Mensch am Leben in der Gemeinschaft teilnimmt, ist abhängig von seinen individuellen Bedürfnissen unter Berücksichtigung seiner angemessenen Wünsche (§ 9 Abs. 2 Satz 1 SGB XII).

Es ist nicht nur eine Grundversorgung sicherzustellen, sondern eine der Situation nichtbehinderter Menschen vergleichbare angemessene Lebensführung (vgl. BSG vom 2.2.2012 – B 8 SO 9/10 -). Maßstab für berechtigte, d.h. angemessene Wünsche sind entsprechend die Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen (st. Rspr. BSG, zuletzt ausdrücklich Urt. vom 19.5.2022 – B 8 SO 13/20 R -) und nicht – wie die Beklagte vorträgt – der Vergleich mit nichtbehinderten, einkommensschwachen Menschen.

Es gilt ein individueller, personenzentrierter Maßstab, der regelmäßig einer pauschalierenden Betrachtung des Hilfefalls entgegensteht (vgl. BSG vom 12.12.2013 – B 8 SO 18/12 R -); die Vorstellungen des Trägers der Eingliederungshilfe sind insoweit unerheblich (vgl. BSG vom 19.5.2022 – B 8 SO 13/20 R -).

Die Betroffene begehrt die Versorgung mit dem Hilfsmittel zu angemessenen Zwecken der Sozialen Teilhabe

Als angemessenes Teilhabeziel sind insbesondere die Besuche in der Wohnung der Mutter zur Aufrechterhaltung der familiären Bindung anzuerkennen. Es entspricht der vom Teilhabeziel umfassten Befähigung zur selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung, dass die Klägerin nicht darauf verwiesen werden kann, die Kontaktpflege zur Mutter auf Besuche der Mutter in der Wohnung der Klägerin zu beschränken, sondern dass die Klägerin selbst entscheiden kann, ob und wann bzw. für welche Dauer, sie ihre Mutter in deren Wohnung besucht.

Die Klägerin kann auch nicht auf Dauer darauf verwiesen werden, dass sie an kleineren Familienfeiern, wie zuletzt dem vergangenen Weihnachtsfest, nicht teilnehmen kann, weil sie nicht in der eigenen Wohnung stattfinden, sondern in der Wohnung der Mutter. Anzuerkennen ist zudem der geltend gemachte Wunsch, die beste Freundin in deren Wohnung zu besuchen.

Auch bei der Pflege dieses Kontaktes handelt es sich um ein angemessenes Teilhabeziel.

Die Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel ist im Übrigen aber notwendig i.S. des § 4 Abs. 1 SGB IX, d.h. geeignet und erforderlich (§ 84 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) um die Teilhabeziele zu erreichen

Hiervon ist vor allem dann auszugehen, wenn die Leistung unentbehrlich zum Erreichen des Leistungsziels ist (vgl. BSG vom 20.9.2012 – B 8 SO 15/11 R -).

Dies ist für das Teilhabeziel des eigenständigen Besuchens der Wohnung der Mutter gegeben. Die Klägerin und ihre Mutter haben zur Überzeugung des Gerichts geschildert, dass die Wohnung der Mutter nur durch Überwindung einer Rampe über fünf Stufen mit dem Rollstuhl befahrbar ist und der vorhandene Elektrorollstuhl eine solche Rampe aufgrund der Steigung und der nicht ausreichenden Motorisierung nicht bewältigen kann. Die Klägerin könnte jedoch mit dem begehrten Schieberollstuhl von der Mutter oder einer Pflegeperson die Rampe hinauf- und hinabgeschoben werden oder die Stufen hinauf- oder hinabgekippelt werden. Diese Möglichkeit scheidet bei dem Elektrorollstuhl aufgrund dessen erheblich größeren Gewichts aus.

Auch die Wohnung der besten Freundin kann die Klägerin unter Berücksichtigung ihres insoweit nachvollziehbaren Vortrags zur Überzeugung des Gerichts mit dem vorhandenen Rollstuhl nicht befahren werden, weil eine Schwelle zu überwinden ist, wozu der der Elektrorollstuhl nicht in der Lage ist. Es ist zudem keine Möglichkeit ersichtlich, die Teilhabewünsche der Klägerin auf andere, gleich geeignete, aber kostengünstigere Weise zu erreichen.

Die Ansprüche sind schließlich nicht wegen § 84 Abs. 3 SGB IX (vgl. auch § 10 Abs. 2 der Eingliederungshilfe-Verordnung) ausgeschlossen, wonach eine Doppelausstattung nur erbracht wird, wenn es im Einzelfall erforderlich ist. Es handelt sich nicht um eine Doppelausstattung.

Anmerkung vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock

Eine Begründung des Gerichts wie aus dem Bilderbuch, sehr, sehr schön! Das Gericht begründet seine Entscheidung aufgrund aktueller Rechtsprechung des Bundessozialgerichts.

Rechtstipp

1. Ein behinderter Mensch hat Anspruch auf ein Rollstuhlzuggerät (zusätzlich zu dem bereits vorhandenen Aktivrollstuhl) zum Zweck des mittelbaren Behinderungsausgleichs, wenn dieses Hilfsmittel erforderlich ist, um den erweiterten Nahbereich im Sinne der neueren Rechtsprechung des BSG zum Krankenversicherungsrecht aus eigener Kraft erschließen zu können.

Ein solcher Anspruch besteht auch nach dem Recht der sozialen Teilhabe, wenn der behinderte Mensch ohne das Hilfsmittel seine Freizeit- und Urlaubsaktivitäten nicht wunschgemäß ähnlich wie ein vergleichbarer, nicht von einer Behinderung betroffener Mensch gestalten kann.

Der Verweis einer Behörde für die Ausflüge des Behinderten – auf Ausweichen auf barrierefreie Wege stellt nach der Rechtsprechung des BSG einen Verstoß gegen das Verfassungsrecht dar ( so ausdrücklich ( SG München, Urt. v. 02.07.2025 – S 48 SO 331/24 -).

2. Für ein behindertes Schulkind kann sowohl ein Aktivrollstuhl als auch ein Elektrorollstuhl notwendig sein. Dabei handelt es sich nicht um eine Doppelversorgung oder Mehrfachausstattung, weil beide verschiedene Funktionen haben ( LSG BB, Urt. v. 07.02.2019 – L 15 SO 183/15 – ).