Rentenanrechnung: Witwe sollte fast 20.000 Euro Witwenrente zurückzahlen – Gericht stoppt DRV

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Eine Witwe, die seit den frühen 1990er-Jahren Renten erhält, soll Jahrzehnte später fast 20.000 Euro an die Deutsche Rentenversicherung (DRV) zurückzahlen – so begann ein Fall, der viele Rentnerinnen und Rentner aufhorchen lässt.

Am Ende scheiterte die Rückforderung: Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg entschied, dass die Frau das Geld behalten darf. Maßgeblich war, dass ihr keine grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden konnte und dass die gesetzlichen Grenzen für nachträgliche Rücknahmen erreicht waren.

Das Urteil (Az.: L 11 R 103/23) ist für alle interessant, die mehrere Renten gleichzeitig beziehen, etwa eine Hinterbliebenenrente und eine eigene Altersrente. Es zeigt, wie weit der Vertrauensschutz reicht – und dass die Rentenversicherung längst nicht in jedem Fall jahrzehntelang zurückfordern darf.

Die Geschichte der Klägerin: Zwei Renten, ein Konto

Die Klägerin erhielt seit 1992 eine Witwenrente. 1993 beantragte sie zusätzlich Altersrente, die ab Oktober desselben Jahres bewilligt wurde. Beide Renten stammten vom gleichen Träger, wurden auf dasselbe Konto überwiesen und tauchten später zusammengefasst in Rentenanpassungsmitteilungen auf.

Auffällig wurde der Vorgang erst viele Jahre später: 2021 stellte die DRV fest, dass die Altersrente auf die Witwenrente anzurechnen gewesen wäre.

Auf dieser Basis verlangte sie, die „zu viel“ gezahlte Witwenrente der vergangenen Jahre in Höhe von knapp 19.600 Euro zurück. Für die Betroffene hätte das die nachträgliche Rückzahlung eines erheblichen Betrags bedeutet – lange nachdem sie die Leistungen im Vertrauen auf die Richtigkeit der Bescheide verbraucht hatte.

Was die Rentenversicherung verlangte

Sozialrechtlich stützte sich die DRV auf die Vorschriften zur Einkommensanrechnung bei Hinterbliebenenrenten. Eigene Renten – wie eine Altersrente – gelten als Einkommen und können dazu führen, dass die Witwen- oder Witwerrente gekürzt wird.

Die DRV ging davon aus, dass die Altersrente rückwirkend auf die Witwenrente hätte angerechnet werden müssen und dass die Witwe ihre Mitteilungspflichten verletzt habe, weil sie den Bezug der Altersrente nicht gesondert dem zuständigen Bereich für Hinterbliebenenrenten gemeldet hatte.

Die Rückforderung bezog sich auf einen langen Zeitraum bis kurz vor 2021. Tatsächlich hätte die Altersrente nur zu kleineren Kürzungen der Witwenrente geführt – die monatliche Anrechnung bewegte sich nach den Feststellungen des Gerichts in einer Größenordnung von rund 43 bis 69 Euro. Dennoch summierte sich dies über die Jahre zu fast 20.000 Euro.

Die Entscheidungen von Sozialgericht und Landessozialgericht

Zunächst hatte das Sozialgericht Stuttgart den Rückforderungsbescheid aufgehoben. Es sah keine grob fahrlässige Verletzung von Mitteilungspflichten und gewährte der Klägerin Vertrauensschutz.

Die Rentenversicherung legte Berufung ein – ohne Erfolg. Das LSG Baden-Württemberg bestätigte 2023, dass die Klägerin das Geld behalten darf. Der Senat stellte in seinem Leitsatz klar: Es ist nicht grob fahrlässig, wenn eine Versicherte bei der Beantragung der Altersrente ihre bereits laufende Witwenrente beim selben Träger angibt und später nicht zusätzlich den für die Witwenrente zuständigen Bereich informiert.

Die Richter betonten, dass die Frau als juristische Laien davon ausgehen durfte, die Rentenversicherung werde intern die notwendigen Informationen austauschen und die Anrechnung richtig vornehmen. Das Ausbleiben einer erkennbaren Kürzung musste sie nicht als Fehler deuten.

Grobe Fahrlässigkeit – was die Gerichte darunter verstehen
Entscheidend war die Frage, ob die Klägerin grob fahrlässig gehandelt hatte. Im Sozialrecht liegt grobe Fahrlässigkeit nur vor, wenn jemand die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maß verletzt, also das missachtet, was sich jeder aufdrängen müsste.

Für die Gerichte sprach einiges dagegen:

Die Klägerin hatte im Altersrentenantrag ausdrücklich angegeben, dass bereits eine Witwenrente besteht. Damit hatte sie die maßgeblichen Tatsachen offen gelegt.

Die Rentenbescheide enthielten zwar Belehrungen zu Mitteilungspflichten, diese waren nach Auffassung des LSG aber nicht so klar, dass eine durchschnittliche Versicherte daraus ohne Weiteres schließen musste, sie müsse den Bezug der Altersrente noch einmal gesondert an die Hinterbliebenenrente-Stelle melden.

Hinzu kam, dass die Klägerin ab 2007 Rentenanpassungsmitteilungen erhielt, in denen beide Renten gemeinsam dargestellt wurden. Aus Sicht einer Laien war dies ein starkes Signal, dass die DRV die Daten kannte, intern abgeglichen hatte und die Berechnung stimmte.

Die Gerichte kamen daher zu dem Schluss: Objektiv hätte die Klägerin den Bezug der Altersrente der für die Witwenrente zuständigen Stelle zwar mitteilen müssen. Subjektiv handelte sie aber weder vorsätzlich noch grob fahrlässig.

Die 10-Jahres-Grenze für Rückforderungen

Neben der Frage der Fahrlässigkeit spielte die zeitliche Begrenzung von Rücknahmen eine wichtige Rolle. Ausschlaggebend sind hier die Vorschriften des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) zur Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte (§ 45 SGB X).

Für Bescheide mit Dauerwirkung – wie eine laufende Witwenrente – gilt grundsätzlich eine Zwei-Jahres-Frist für die Rücknahme. In bestimmten Ausnahmefällen kann die Rücknahme aber innerhalb von bis zu zehn Jahren erfolgen, etwa wenn die begünstigte Person die Rechtswidrigkeit kannte oder grob fahrlässig nicht kannte oder wenn sie falsche oder unvollständige Angaben gemacht hat.

Nach Ablauf dieser zehn Jahre genießt die Rechtssicherheit besonderen Vorrang: Selbst wenn die Leistung von Beginn an zu hoch war, soll der Bescheid dann im Regelfall nicht mehr zu Lasten der Betroffenen korrigiert werden. Das hat auch das Bundessozialgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 2020 ausdrücklich herausgestellt.

Im Fall der Witwe waren die fraglichen Zeiträume weit länger als zehn Jahre vergangen. Eine Rücknahme wäre nur dann zulässig gewesen, wenn einer der gesetzlich vorgesehenen Ausnahmegründe vorgelegen hätte – etwa grobe Fahrlässigkeit der Klägerin.

Genau das verneinten die Gerichte. Damit scheiterte die Rückforderung nicht nur an fehlender grober Fahrlässigkeit, sondern auch an den zeitlichen Grenzen, die das Gesetz für das Zurückdrehen alter Bescheide setzt.

Mitteilungspflichten – und was Versicherte vernünftigerweise erwarten dürfen

Rentenbescheide enthalten regelmäßig Hinweise darauf, dass bestimmte Änderungen mitzuteilen sind: etwa der Beginn einer weiteren Rente, Arbeitsaufnahme, Änderung des Familienstands oder relevante Einkünfte. Diese Pflicht besteht unabhängig davon, ob es sich um denselben oder einen anderen Rentenversicherungsträger handelt.

Allerdings heißt eine objektive Pflichtverletzung noch nicht automatisch, dass Versicherte grob fahrlässig handeln. Die Gerichte prüfen, wie verständlich die Hinweise formuliert waren, ob die Betroffenen die entscheidenden Daten bereits an anderer Stelle derselben Behörde angegeben haben und ob sie Anlass hatten, an der Richtigkeit der Berechnungen zu zweifeln.

Im vorliegenden Fall gewichtete das LSG mehrere Umstände zugunsten der Klägerin: Sie hatte die Witwenrente bereits im Altersrentenantrag genannt, also alles Relevante offenbart.

Beide Renten wurden von derselben Versicherung auf dasselbe Konto gezahlt.
Die Anpassungsmitteilungen fassten beide Renten zusammen, was den Eindruck verstärkte, dass intern alles richtig verrechnet worden war.

Unter diesen Voraussetzungen durfte die Witwe nach Ansicht des Gerichts darauf vertrauen, dass die Verwaltung ihre Arbeit korrekt erledigt und sie nicht selbst komplizierte Anrechnungsfragen nachprüfen muss.

Warum die Belehrung im Bescheid nicht ausreichte

Besondere Aufmerksamkeit widmete das LSG den Belehrungen im ursprünglichen Witwenrentenbescheid von 1992. Die Formulierungen seien abstrakt und juristisch gehalten gewesen. Für Fachleute mag klar sein, dass der Beginn einer Altersrente eine Änderung bedeutet, die die Hinterbliebenenrente beeinflussen kann. Für eine nicht rechtskundige Person erschließt sich das aber nicht ohne Weiteres, zumal die Altersrente beim selben Träger beantragt wird.

Auch die relativ geringen Kürzungsbeträge zwischen rund 43 und 69 Euro monatlich sah das Gericht als Argument gegen grobe Fahrlässigkeit. Selbst wenn der Klägerin aufgefallen wäre, dass sich ihr Gesamtzahlbetrag irgendwann leicht verändert, hätte sie daraus kaum erkennen können, ob eine Einkommensanrechnung korrekt oder fehlerhaft erfolgt ist.

Kleine Anrechnung – große Wirkung

Der Fall verdeutlicht dies: Auf der einen Seite steht das öffentliche Interesse, Leistungen korrekt zu berechnen und Überzahlungen möglichst zu vermeiden. Auf der anderen Seite steht das Vertrauen von Versicherten, dass einmal bewilligte Renten auch richtig berechnet sind – gerade wenn jahrzehntelang niemand etwas beanstandet.

Dass eine vergleichsweise geringe monatliche Anrechnung über Jahre hinweg zu einer Rückforderung im fünfstelligen Bereich führen kann, war für die Klägerin nicht absehbar. Die Gerichte hielten es für unzumutbar, ihr nachträglich vorzuwerfen, sie hätte frühzeitig erkennen müssen, dass die Rentenversicherung selbst einen Fehler gemacht hatte.

Beispiel aus dem Alltag: Frau Müller und die verspätete Anrechnung

Zur Verdeutlichung lässt sich ein ähnlicher Alltagsfall denken:
Frau Müller erhält seit 2010 eine Witwenrente. Zwei Jahre später beantragt sie Altersrente. Im Formular gibt sie – wie verlangt – an, dass sie bereits eine Witwenrente bezieht.

Beide Renten werden von derselben Versicherung auf dasselbe Konto überwiesen. Die jährlichen Mitteilungen listen beide Leistungen gemeinsam auf.

Erst 2025 stellt die Behörde fest, dass die Altersrente nachträglich auf die Witwenrente hätte angerechnet werden müssen. Würde Frau Müller – ähnlich wie die Klägerin im entschiedenen Verfahren – nachweisen können, dass sie alle Angaben korrekt gemacht hat, die Belehrungen missverständlich waren und sie keine besonderen Anhaltspunkte für einen Fehler hatte, spräche vieles dafür, dass auch sie auf Vertrauensschutz pochen könnte. Dann wäre eine Rückforderung für lange zurückliegende Zeiträume rechtlich zumindest stark eingeschränkt.

Ob ein Gericht dies im Einzelfall ebenso sehen würde, hängt aber immer von den genauen Umständen ab. Das Urteil des LSG Baden-Württemberg bietet eine Orientierung, ersetzt jedoch keine individuelle Prüfung.

Was Hinterbliebene und Rentnerinnen jetzt beachten sollten

Wer mehrere Renten bezieht – etwa eine Hinterbliebenenrente und eine eigene Altersrente –, sollte bei jedem neuen Antrag offenlegen, welche Leistungen bereits laufen. Insbesondere bei Anträgen auf Hinterbliebenenrente empfiehlt es sich, bestehende Alters-, Erwerbsminderungs- oder Unfallrenten vollständig anzugeben. Das erleichtert der Rentenversicherung die korrekte Berechnung und reduziert das Risiko späterer Auseinandersetzungen.

Auch wenn – wie im entschiedenen Fall – derselbe Rentenversicherungsträger beide Renten zahlt, bleibt diese Transparenz wichtig. Organisatorisch sind oft verschiedene Fachbereiche zuständig. Versicherte dürfen zwar grundsätzlich darauf hoffen, dass die Behörde intern Informationen austauscht, sollten aber nicht darauf vertrauen, dass dies immer reibungslos geschieht. Eine zusätzliche schriftliche Mitteilung über den Beginn einer weiteren Rente kann Streit vermeiden.

Fällt nach einiger Zeit auf, dass trotz zusätzlicher Rente keine oder nur eine unerwartet geringe Einkommensanrechnung erfolgt, kann eine Nachfrage bei der DRV sinnvoll sein. Wer auf einer schriftlichen Bestätigung besteht, schafft eine Grundlage für späteren Vertrauensschutz.

Gleichzeitig gilt: Wenn alle Angaben korrekt gemacht wurden und die Behörde über Jahre hinweg keine Anrechnung vornimmt, wird es für sie deutlich schwieriger, nach vielen Jahren noch hohe Beträge zurückzufordern.

Einordnung im größeren rechtlichen Rahmen

Das Urteil des LSG Baden-Württemberg fügt sich in eine Reihe von Entscheidungen ein, in denen Gerichte die Bedeutung des Vertrauensschutzes bei langjährig gezahlten Sozialleistungen betonen.

Schon 2018 hatte ein anderer Senat desselben Gerichts in einem vergleichbaren Fall entschieden, dass Versicherte nicht zwingend jedes Detail selbst überwachen müssen, wenn sie einmal korrekte Angaben gemacht haben und über lange Zeit keine Beanstandung erfolgt.

Allerdings urteilen Gerichte nicht immer zugunsten der Versicherten. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen etwa hat 2024 hervorgehoben, dass die Mitteilungspflicht bei Hinzutritt einer Altersrente auch dann bestehen bleibt, wenn beide Renten von derselben DRV gezahlt werden; dort waren die Umstände anders gelagert, und der Kläger konnte sich nicht in gleicher Weise auf Vertrauensschutz berufen.

Die Botschaft lautet daher nicht, dass Rückforderungen generell ausgeschlossen wären. Vielmehr kommt es auf eine genaue Abwägung an: Welche Informationen hat die versicherte Person wann gegeben? Wie klar waren die Belehrungen? Wie lange liefen die Zahlungen, ohne dass die Behörde tätig wurde? Und hätte ein durchschnittlich informierter Mensch den Fehler erkennen müssen?