Ein Jura-Student, ein Traditionsbrauhaus, eine geplatzte Betriebsratsversammlung – und am Ende ein Urteil, das aufhorchen lässt: Das Landesarbeitsgericht (LAG) München hat einem früheren Kellner Schadensersatz und Abfindungen zugesprochen, die sich in der Summe auf rund 100.000 Euro belaufen.
Der Ausgangspunkt: Zwischen Betriebsratsinitiative und Vertrauensbruch
Der Student arbeitete in einem Münchner Traditionsbetrieb der Gastronomie. Auslöser des Streits war der Versuch, einen Betriebsrat zu gründen – ein gesetzlich legitimes Anliegen, das in vielen Betrieben zunächst Spannungen erzeugt.
Nach den geschilderten Abläufen kam es im Vorfeld der Wahlversammlung zu erheblichen Emotionen, die Versammlung platzte, und kurz darauf wurde der Student nicht mehr in den Dienstplan aufgenommen.
Der Geschäftsführer begründete dies mit einem angeblichen Vertrauensverlust. Faktisch bedeutete das die Aussetzung der Beschäftigung – ohne formale Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Annahmeverzug: Wenn Arbeit nicht angeboten wird, läuft der Lohn weiter
Juristisch zentral war die Frage, ob dem Kellner sogenannte Annahmeverzugsvergütung zusteht. Ein Minijob ändert an diesem Grundsatz nichts: Bietet der Arbeitgeber die geschuldete Arbeit nicht mehr an oder nimmt er sie nicht an, gerät er in Annahmeverzug – mit der Folge, dass Lohnansprüche fortbestehen.
Der Student machte geltend, über Monate nicht beschäftigt worden zu sein, obwohl ein Arbeitsverhältnis bestand. Später forderte der Arbeitgeber ihn zwar zur Rückkehr auf, da befand sich der Betroffene jedoch bereits in einem anderen Beschäftigungsverhältnis.
Das Gericht folgte im Ergebnis der Sicht, dass die ausfallenden Schichten lohnrelevant sind – ein Baustein, der einen erheblichen Teil der zugesprochenen Summe erklärt.
Kündigung, Sozialauswahl und Diskriminierung: Wo Argumente kippen
Der Arbeitgeber brachte in dem Verfahren vor, der Student sei jung, teilzeitbeschäftigt, kinderlos und habe keine Unterhaltspflichten; im Rahmen einer Sozialauswahl spreche das für eine Beendigung. Genau an dieser Stelle setzte das Antidiskriminierungsrecht an.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) schützt unter anderem vor Benachteiligungen wegen des Alters. Wird eine Kündigungsentscheidung im Kern damit begründet, dass jemand „besonders jung“ sei oder typischerweise altersbezogene Merkmale (wie fehlende Unterhaltspflichten) aufweise, droht die Argumentation in Diskriminierungslogik zu kippen.
Das LAG bewertete die Gewichtung solcher Kriterien als unzulässige Benachteiligung. Daraus folgte ein Anspruch auf Entschädigung – ein weiterer gewichtiger Baustein des Gesamtbetrags.
Indizien für unzulässige Einflussnahme
Zum Bild des Falles gehörte, dass der Student zwischenzeitlich in die Küche versetzt wurde – aus Sicht des Gerichts ein Hinweis darauf, dass der Arbeitgeber auf eine Eigenkündigung hinwirken wollte. Solche „Provozierungskonstellationen“ sind im Kündigungsschutzrecht keine Seltenheit und werden von den Gerichten kritisch gewürdigt.
Dass das LAG neben Geldleistungen auch eine formelle Entschuldigung des Arbeitgebers und die Wiederaufnahme in eine interne Service-WhatsApp-Gruppe anordnete, ist Ausdruck dafür, dass hier nicht nur ökonomische Nachteile, sondern auch Persönlichkeitsbezüge und betriebliche Teilhaberechte eine Rolle spielten.
Trinkgeld als ersatzfähiger Schaden: Vom „Nice-to-have“ zum Lohnäquivalent
Besonders aufmerksamkeitsstark ist die Entscheidung zum entgangenen Trinkgeld. Das Gericht stellte fest, dass die fehlende Beschäftigung zugleich zu messbaren Einbußen bei den Trinkgeldern führte. Auf Basis einer unstreitig gestellten Durchschnittsgröße von rund 100 Euro pro Schicht rechnete das LAG einen erheblichen Betrag als entgangenen Gewinn an – im konkreten Fall rund 15.000 Euro.
Damit bestätigt das Gericht, dass Trinkgeld im Gastgewerbe nicht nur eine freiwillige Zugabe der Gäste ist, sondern unter bestimmten Voraussetzungen als realistische, bezifferbare Verdienstkomponente gilt, die bei rechtswidriger Nichtbeschäftigung ersatzfähig ist.
Waschkosten, Hygiene und Energiepauschale: Kleine Positionen mit Signalwirkung
Über den Kernlohn hinaus erkannte das LAG weitere Positionen zu. So wurden Kosten für das Waschen von Arbeitskleidung ersetzt. Hintergrund ist der hygienerechtliche Grundsatz, dass der Arbeitgeber für die Bereitstellung und sachgemäße Reinigung von Schutzausrüstung beziehungsweise vorgeschriebener Arbeitskleidung verantwortlich ist.
Wenn Beschäftigte solche Aufgaben auf eigene Kosten übernehmen, können Erstattungsansprüche entstehen. Hinzu kam eine Energiepauschale. Zusammengenommen wirken diese Posten wie Details – in der Summe tragen sie jedoch spürbar zum Gesamtanspruch bei und senden das Signal, dass Arbeitgeberpflichten im Detail nicht beliebig auf Beschäftigte verlagert werden dürfen.
Erste Instanz verloren, zweite gewonnen
Bemerkenswert ist der prozessuale Weg. Vor dem Arbeitsgericht München unterlag der Student zunächst. In der Berufung vor dem LAG München wendete sich das Blatt.
Solche Verläufe sind im Arbeitsrecht nicht ungewöhnlich. Berufungsgerichte setzen oft andere Schwerpunkte, insbesondere wenn es um die Würdigung von Indizienketten, Diskriminierungsmerkmalen und die Abgrenzung von zulässiger betrieblicher Organisation zu unzulässiger Druckausübung geht.
Das LAG legte die einzelnen Stränge – Annahmeverzug, Diskriminierung, Nebenpflichtverletzungen – zu einem konsistenten Gesamtbild zusammen.
Persönliche Haftung des Geschäftsführers: Wenn die GmbH-Schranke nicht schützt
Ein weiterer Paukenschlag ist die persönliche Haftung des Geschäftsführers. Grundsätzlich schützt die Rechtsform der GmbH vor persönlicher Inanspruchnahme der Organwalter.
Das LAG sah hier jedoch – gestützt auf das AGG – eine persönliche Verantwortlichkeit, weil die diskriminierenden Erwägungen dem Geschäftsführer selbst zugerechnet wurden.
Solche Konstellationen sind selten, aber möglich, wenn gesetzliche Haftungsnormen die persönliche Verantwortlichkeit ausdrücklich eröffnen. Für die Praxis bedeutet das: Führungskräfte, die Kündigungsentscheidungen treffen oder maßgeblich beeinflussen, bewegen sich nicht risikofrei hinter der „Haftungsmauer“ der Gesellschaft.
Insolvenz des Betriebs: Anspruchsdurchsetzung unter erschwerten Bedingungen
Zwischenzeitlich geriet das Unternehmen in die Insolvenz. Auch diese Lage spricht für die Bedeutung der persönlichen Haftung: Wo die Masse knapp ist und betriebliche Ansprüche wirtschaftlich kaum durchsetzbar scheinen, bleibt die Frage, ob und wie auf Organpersonen zugegriffen werden kann.
Das LAG bejahte hier ausdrücklich eine Anspruchsgrundlage gegenüber dem Geschäftsführer. Damit wird die Entscheidung auch aus vollstreckungsrechtlicher Perspektive relevant.
„Megaurteile“ in Serie?
Die Frage, ob nun häufiger „Megaurteile“ zu erwarten sind, lässt sich nur differenziert beantworten.
Das Ergebnis beruht nicht auf einer einzelnen, spektakulären Norm, sondern auf dem Zusammenwirken mehrerer Ansprüche: fortlaufender Lohn wegen Annahmeverzugs, Entschädigung wegen Diskriminierung, Ersatz konkreter Aufwendungen und entgangenen Trinkgelds, flankiert von Nebenansprüchen bis zur formellen Entschuldigung. Kommen mehrere dieser Faktoren zusammen, können auch in „kleinen“ Arbeitsverhältnissen beträchtliche Summen entstehen.
Das macht den Fall zum Lehrstück weniger für neue Rechtsgrundsätze als für die Konsequenz, mit der Gerichte vorhandenes Recht anwenden, wenn Arbeitgeber Grenzen überschreiten.
Was Beschäftigte bei einer Kündigung jetzt wissen sollten
Wer eine Kündigung oder faktische Aussteuerung aus dem Dienstplan erfährt, sollte zügig handeln. Entscheidend sind Fristen: Eine Kündigungsschutzklage muss in der Regel binnen drei Wochen beim Arbeitsgericht erhoben werden. Auch ohne formale Kündigung können Ansprüche bestehen, wenn Arbeit nicht mehr zugewiesen wird.
Dokumentation wird zur Währung des Prozesses. Wer Schichteinteilungen, Kommunikation und betriebliche Abläufe nachvollziehbar sichern kann, verbessert seine Position erheblich. Kommen Diskriminierungsaspekte in Betracht, steigt die Bedeutung früher, präziser Darlegungen, weil das AGG mit Beweiserleichterungen arbeitet, sobald Indizien dargelegt sind. Im Gastgewerbe lohnt sich außerdem, Trinkgelder realistisch zu erfassen, wenn sie dauerhaft wesentlicher Vergütungsbestandteil sind – im Streitfall können sie ersatzfähig sein.
Fazit: Ein Fall mit Signalwirkung – nicht wegen eines neuen Rechts, sondern wegen seiner konsequenten Anwendung
Das LAG München hat keinen juristischen Zaubertrick vollführt, sondern geltendes Recht stringent angewandt: Annahmeverzug schützt auch Minijobber. Diskriminierungsverbote gelten unabhängig vom Beschäftigungsumfang.
Trinkgelder können tatsächlicher Verdienst und damit ersatzfähiger Schaden sein. Arbeitgeberpflichten bei Arbeitskleidung sind ernst zu nehmen. Und in besonderen Konstellationen kann die persönliche Haftung von Geschäftsführern greifen.
Dass die Summe am Ende sechsstellig ausfiel, liegt an der Verdichtung dieser Elemente – und daran, dass das Gericht unzulässige Verhaltensweisen nicht nur rügte, sondern spürbar sanktionierte.
Für die Praxis heißt das: Wer Arbeitsbeziehungen sauber organisiert, Mitbestimmung respektiert, Diskriminierungsrisiken ernst nimmt und Pflichten nicht auf Beschäftigte abwälzt, minimiert Konflikte – und vermeidet teure Lehrstücke. Wer hingegen versucht, missliebige Initiativen auszubremsen oder Beschäftigte „rauszudrängen“, riskiert Entscheidungen wie diese. Der Fall ist damit weniger Ausreißer als Mahnung, Arbeitsrecht nicht als Feind, sondern als Struktur für faire Zusammenarbeit zu begreifen.
Aktenzeichen: Az: 11 Sa 456/23 und Az: 5 Ca 3538/22