Eltern, die Bürgergeld beziehen, hoffen oft auf Unterstützung des Jobcenters, wenn für ihre Kinder eine Zahnspange notwendig wird. Ein aktuelles, wegweisendes Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Sachsen macht nun unmissverständlich klar:
Die Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung begründen keinen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II – und zwar auch dann nicht, wenn die Behandlung über mehrere Jahre läuft und erhebliche Summen ausmacht.
Inhaltsverzeichnis
Worum es geht
Konkret verlangte eine Bedarfsgemeinschaft einen Mehrbedarf in Höhe von 1.010,21 Euro vom Jobcenter. Die IKK classic hatte zuvor die Kostenübernahme bestandskräftig abgelehnt. Als Anspruchsgrundlage kam daher allein der Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II in Betracht.
Doch die Klage vor dem LSG Sachsen blieb erfolglos. Die Richterinnen und Richter stellten klar: Es handelt sich nicht um einen besonderen Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II.
Kein „laufender Bedarf“ trotz Drei- bis Vierjahresplan
Ein zentraler Punkt des Urteils: Auch eine über drei bis vier Jahre angelegte Behandlung begründet keinen laufenden Bedarf. Zwar sah der Heil- und Kostenplan vor, vierteljährlich eine Abrechnung zu erstellen.
Das Gericht wertete dies aber nicht als Vielzahl regelmäßig wiederkehrender, einzelner Bedarfe, sondern als einen Gesamtbedarf für die gesamte Behandlung, die mit voraussichtlich 3.362,21 Euro veranschlagt war.
Damit fehlt die rechtliche Grundlage, die ein fortlaufendes, monatlich wiederkehrendes Mehrbedarfsbudget rechtfertigen könnte.
Nicht „besonders“ im Sinne des Gesetzes
Für einen besonderen (atypischen) Bedarf verlangt die Rechtsprechung, dass dieser nur bei einer eher kleinen Gruppe Leistungsberechtigter auftritt. Genau das verneinte das LSG Sachsen. Bereits das LSG Nordrhein-Westfalen hatte in einem Urteil vom 9. August 2012 (Az. L 6 AS 139/12 ZVW) auf eine Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) verwiesen:
Schon 2001 wurde festgestellt, dass kieferorthopädische Behandlungen bei mindestens rund 50 Prozent der Kinder in Deutschland durchgeführt werden. Eine solch verbreitete Versorgung ist gerade kein atypischer Ausnahmefall, sondern sozialtypisch – und damit kein besonderer Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II.
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Bescheid prüfenUnabweisbarkeit: strenge Hürde durch das BSG
Hinzu kommt die Subsidiarität der Grundsicherung. Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom 12. Dezember 2013 (B 4 AS 6/13 R) klargestellt:
Ein medizinischer Bedarf ist im SGB II grundsätzlich nur dann „unabweisbar“, wenn nicht die gesetzliche Krankenversicherung oder Dritte verpflichtet sind, die Leistung zu erbringen. Im vorliegenden Fall ging es – bei einer Zahnfehlstellung nur der Indikationsgruppe 2 – um Leistungen, die die Krankenkasse nicht übernimmt.
Zwar kann nach der BSG-Rechtsprechung grundsätzlich in solchen Fällen ein Anspruch auf eine Mehrbedarfsleistung entstehen. Aber: Die befundbezogenen Indikationen der Kieferorthopädie-Richtlinien ziehen bewusst eine Grenze zwischen Befunden mit eindeutiger medizinischer Notwendigkeit und solchen, deren Behandlungsnotwendigkeit nicht ausreichend begründet ist.
SGB V: Eigenverantwortung für Eingriffe über das Notwendige hinaus
Aus der Grundkonzeption des SGB V folgt: Behandlungen, die über die notwendige Versorgung hinausgehen, sind vom Versicherten selbst zu tragen. Genau das sah das LSG Sachsen hier als maßgeblich an.
Eine medizinisch ausreichend begründete Behandlungsnotwendigkeit war bei der Klägerin nicht erkennbar. Zwar schilderte sie niedrigschwellige Beeinträchtigungen wie Kopfschmerzen und Verspannungen. Diese wurden jedoch – sobald die Krankenversicherung die Kosten übernahm – ärztlich behandelt. Schwerwiegende, die Lebensqualität dauerhaft beeinträchtigende Effekte erkannte das Gericht nicht.
Kernaussagen auf einen Blick
TABELLE
Fazit
Das LSG Sachsen betont die Grenzen des Bürgergeld-Systems: Kieferorthopädische Behandlungen von Kindern – selbst wenn sie über Jahre laufen und teuer sind – lösen grundsätzlich keinen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II aus.
Grundrechtsrelevante Beeinträchtigungen durch eine nicht ausreichende Krankenbehandlung, die durch ergänzende Leistungen der Grundsicherung abzuwenden wären, lagen in den betroffenen Zeiträumen nicht vor. Damit bleibt es dabei: Für medizinische Leistungen oberhalb der notwendigen Versorgung müssen Familien selbst aufkommen.
Anmerkung des Verfassers
Kein Zuschuss vom Jobcenter für Jugendliche bei Zahnspange – so bereits das BSG (Az. B 4 AS 6/13 R).