Erwerbsfรคhige Schwerbehinderte im Bezug von Hartz IV haben keinen Anspruch auf Mehrbedarf fรผr Behinderung.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (AZ: L 7 AS 102/08) urteilte: Ein behindertenbedingter Mehrbedarf ergibt sich nicht aus ยง 21 Abs. 4 SGB II BGBl. I S. 2954. Danach erhalten erwerbsfรคhige behinderte Hilfebedรผrftige, denen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach ยง 33 Neuntes Buch sowie sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder Hilfe zur Ausbildung fรผr eine sonstige angemessene Tรคtigkeit erbracht werden, einen Mehrbedarf von 35 % der nach ยง 20 [SGB II] maรgebenden Regelleistung. Die Klรคgerin ist dem anspruchsberechtigten Personenkreis nicht zuzurechnen. Denn sie erfรผllt die Voraussetzungen des ยง 21 Abs. 4 SGB II (offensichtlich) nicht, da sie keine der in dort genannten Leistungen bezogen hat. (
Die Klรคgerin kann entgegen ihrer Auffassung ihr Begehren auch nicht auf ยง 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II stรผtzen. Dabei kann der Senat offen lassen, ob diese erst mit Wirkung vom 01.08.2006 eingefรผgte Norm (Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung fรผr Arbeitsuchende BGBl. I S. 1706) รผberhaupt auf einen Sachverhalt vor Inkrafttreten angewendet werden kann. Denn die Klรคgerin ist im Zeitraum von Januar 2005 bis Mai 2006 nicht erwerbsunfรคhig gewesen. Nach ยง 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II erhalten nichterwerbsfรคhige Personen einen Mehrbedarf von 17 %, wenn sie Inhaber eines Ausweises nach ยง 69 Abs. 5 SGB IX mit dem Merkzeichen "G" sind. Bei der Klรคgerin sind zwar die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "G" und ein GdB von 60 anerkannt. Die Klรคgerin ist jedoch keine nichterwerbsfรคhige Person im Sinne dieser Vorschrift, sondern bezog Grundsicherungsleistungen als erwerbsfรคhige Berechtigte (ยงยง 8 Abs. 1, 7 SGB II).
Auch die Voraussetzungen fรผr eine analoge Anwendung des ยง 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II liegen nicht vor. Es fehlt an einer planwidrigen Regelungslรผcke. Aus der รbertragung der Mehrbedarfsregelung des SGB XII unter Verweis auf den Gleichheitsgrundsatz folgt (BT-Drucks. 16/1410, S. 25), dass der Mehrbedarf fรผr Schwerbehinderte im SGB II vom Gesetzgeber nur fรผr den erwerbsunfรคhigen Sozialgeldbezieher gewรคhrt werden kann. Die รnderung in ยง 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II ist allein als Korrektur einer vorbestehenden Ungleichbehandlung des Personenkreises der behinderten Sozialgeldempfรคnger anzusehen. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass der Gesetzgeber eben gerade insoweit keine einheitliche Gewรคhrung eines Mehrbedarfs fรผr Schwerbehinderte sowohl fรผr Leistungsbezieher nach dem SGB II und dem SGB XII beabsichtigte.
Eine Anspruchsgrundlage fรผr den Mehrbedarf fรผr Schwerbehinderte ergibt sich auch nicht aus dem SGB XII.
Der Anspruch lรคsst sich entgegen der Auffassung der Klรคgerin auch nicht aus ยง 30 SGB Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB XII , Art. 1 des Gesetzes BGBl. I S. 3022) herleiten. Danach erhalten nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) voll erwerbsgeminderte Personen unter 65 Jahren, die einen Ausweis nach ยง 69 Abs. 5 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) mit dem Merkzeichen "G" besitzen, einen Mehrbedarf von 17 % des maรgeblichen ALG II Regelsatzes, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht. Zum einen erfรผllt die Klรคgerin diese Voraussetzungen im streitbefangenen Zeitraum nicht. Die volle Erwerbsminderung nach dem SGB VI wurde erst danach festgestellt. Zum anderen schlieรt nach dem eindeutigen Wortlaut des ยง 5 Abs. 2 SGB II der Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Leistungen nach dem Dritten Kapitel des Zwรถlften Buches aus. Dazu zรคhlen die ยงยง 27 bis 40 SGB XII und somit auch ยง 30 SGB XII.
Der Anspruch kann auch nicht auf ยง 73 SGB XII gestรผtzt werden. Soweit der von der Klรคgerin geltend gemachte besondere Bedarf zu dem von der Regelleistung umfassten Bedarf zรคhlt, kann nicht auf ยง 73 SGB XII zurรผckgegriffen werden (Spellbrink, a.a.O., ยง 20 Rn. 38). Ansonsten setzt ein Anspruch nach ยง 73 SGB XII eine atypische Bedarfslage voraus, fรผr die die in Kapitel Neun des SGB XII enthaltene Sperrwirkung des ยง 5 Abs. 2 S. 1 SGB II nicht eingreift. Nach ยง 73 S. 1 SGB XII kรถnnen Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz รถffentlicher Mittel rechtfertigen. Die Norm darf nicht zur allgemeinen Auffangnorm fรผr Leistungsempfรคnger des SGB II ausgeweitet werden. Daher ist eine atypische Bedarfslage, die eine gewisse Nรคhe zu den speziell in den ยงยง 47 bis 74 SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweist (BSG, B 7b AS 14/06 Rn. 22 ), notwendig. Es muss sich dabei um eine besondere atypische Bedarfslage, unter besonderer Berรผcksichtigung der Grundrechte, handeln. Hierzu zรคhlt z.B. "im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und 2 S. 1 GG" das Umgangsrecht mit den Kindern des nicht sorgeberechtigten Elternteils im Zuge der Scheidung (BSG, a.a.O.). Das Vorliegen verfassungsrechtlicher Grรผnde fรผr einen Sonderbedarf ist bei der Klรคgerin nicht erkennbar. Eine solche atypische Bedarfslage liegt nicht vor. Vielmehr handelt es sich (nur) um einen erhรถhten Bedarf.
Entgegen der Ansicht der Klรคgerin kann sie einen Anspruch auf Leistungen fรผr Mehrbedarf fรผr erwerbsfรคhige Menschen mit Behinderungen auch nicht auf Art. 3 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit ยง 30 Abs. 1 SGB XII oder ยง 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II stรผtzen. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. Eine Regelung ist mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht vereinbar, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art oder solchem Gewicht bestehen, das sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen kรถnnen (BVerfGE 116, 229, 238; 112, 368, 401). Der Gesetzgeber hat gerade bei der Gewรคhrung von Sozialleisungen, die an die Bedรผrftigkeit des Empfรคngers anknรผpfen, grundsรคtzlich einen weiten Gestaltungsspielraum (BVerfGE 100, 195, 205; BSGE 90, 172, 178). Es ergeben sich allerdings aus dem allgemeinen Gleichheitssatz umso engere Grenzen, je stรคrker sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausรผbung grundrechtlich geschรผtzter Freiheiten nachteilig auswirken kann (BVerfGE 88, 87, 96). Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund mรผssen in einem angemessenen Verhรคltnis zueinander stehen (BVerfGE 111, 160, 171). Gemessen an diesen Vorgaben hat der Gesetzgeber seien Gestaltungsspielraum nicht รผberschritten.
Der hilfebedรผrftige Behinderte nach dem SGB II erhรคlt neben den Leistungen nach ยง 19 S. 1 SGB II einen Mehrbedarf nach ยง 21 Abs. 4 SGB II und fรผr den Fall, dass er wegen der Schwer- und/oder Gehbehinderung zusรคtzlich einen Mehrbedarf hat, den er dann nicht aus der Regelleistung bestreiten kann, den unabdingbaren zusรคtzlichen Bedarf als Sach- oder Geldleistung darlehensweise nach ยง 23 Abs. 1 SGB II (BSG B 1 KR 10/07 R, Rn. 30 zur Zuzahlung in der gesetzlichen Krankenversicherung). Erwerbsunfรคhige Behinderte erhalten neben dem Regelsatz und den Leistungen fรผr Unterkunft und Heizung u.a. einen Mehrbedarf nach ยง 30 Abs. 4 SGB XII, wenn sie das 15. Lebensjahr vollendet haben und Eingliederungshilfe nach ยง 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3 geleistet wird in Hรถhe von 35 % des maรgeblichen Regelsatzes, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht. Jedoch ist nach ยง 30 Abs. 4 S. 3 SGB XII "Abs. 1 S. 1 Nr. 2 daneben nicht anzuwenden". Dabei handelt es sich um die Norm, die die Gewรคhrung des Mehrbedarfs fรผr Menschen mit Behinderungen, die die Altersgrenze nach ยง 41 Abs. 2 SGB XII noch nicht erreicht haben, regelt. Eine Ungleichbehandlung in dem Fall, dass jeweils Eingliederungsleistungen bezogen werden, liegt somit nicht vor. Denn nach ยง 30 Abs. 4 S. 3 SGB XII erhรคlt der Bezieher von Sozialhilfe dann auch keinen Mehrbedarf wegen Vorliegens einer Behinderung und der Gehbehinderung.
Eine gegen Art. 3 GG verstoรende Ungleichbehandlung der erwerbsfรคhigen Hilfebedรผrtigen gegenรผber den Leistungsbeziehern nach dem SGB XII, die nach ยง 30 SGB XII einen Mehrbedarf beanspruchen kรถnnen, liegt ebenfalls nicht vor. Soweit geltend gemacht wird, dass jeweils ein unabweisbarer Sonderbedarf bestehe, dem zur Vermeidung einer Ungleichbehandlung jeweils durch besondere Leistungen Rechnung getragen werden mรผsse, so dass den SGB II-Berechtigten mindestens der Standard des SGB XII zu gewรคhren sei (LSG Berlin-Brandenburg, L 14 B 1378/05 AS PKH; Brรผhl in LPK-SGB II, ยง 5 Rn. 47; Armborst, info also 2006, 59 f.), ist die unterschiedliche Behandlung hinreichend durch sachliche Grรผnde gerechtfertigt. Denn bei dem Leistungsempfรคnger nach dem SGB II handelt es sich um einen erwerbsfรคhigen Hilfebedรผrftigen, wรคhrend sich der nach dem SGB XII Berechtigte durch die Erwerbsunfรคhigkeit nach dem SGB VI auszeichnet. Letzterem wird eine konkrete langfristig ausgerichtete Absicherung im Sinne einer umfassenden Fรผrsorge zuteil.
Dem Sozialhilfebezieher wird der Mehrbedarf gewรคhrt, um Kontaktpflege zu ermรถglichen und einen Ausgleich dafรผr zu schaffen, dass der Erwerbsunfรคhige im Gegensatz zu dem Berechtigten nach dem SGB II eben gerade nicht in der Lage ist, durch eine (geringfรผgige) Tรคtigkeit etwas hinzu zuverdienen, um sich ein zusรคtzliches, (zum Teil) anrechnungsfreies Einkommen zu verschaffen (Oestreicher/Schelter/Decker, BSHG, Stand Juli 2003, ยง 23 Rn. 8 ff.; LSG NRW, L 9 AS 34/08). Zwar ist erkennbar, dass die Personenkreise der Grundsicherungs- und der Sozialhilfebezieher tatsรคchlich enger zusammenrรผcken bei Vorliegen einer Schwerbehinderung und einer Gehbehinderung, da auch fรผr die erwerbsfรคhigen gehbehinderten Behinderten zusรคtzliche weitere Eingliederung- und Vermittlungshemmnisse bestehen. Jedoch verbleibt dem SGB II-Empfรคnger die Mรถglichkeit, eine Nebentรคtigkeit auszuรผben. Daneben ist zu beachten, dass die vorrangige Zielsetzung, den Hilfebedรผrftigen nach dem SGB II mรถglichst umgehend in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, dem Gesetzgeber den Gestaltungsspielraum erรถffnet, vorรผbergehend aus sachlichen Grรผnden eine Differenzierung vorzunehmen. Denn es werden andererseits zusรคtzliche Maรnahmen, etwa Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach den ยงยง 15 ff. SGB II gewรคhrt, um die Eingliederung erwerbsfรคhiger Hilfebedรผrftiger in den Arbeitsmarkt zu realisieren (BSG, Urteil B 14 AS 24/07 R). Daher kann der Leistungsempfรคnger auch keine vollkommene Gleichbehandlung mit dem Bezieher von Sozialhilfe verlangen (Spellbrink in Eicher/Spellbrink, ยง 20 Rn. 37). (verรถffentlicht am 13.05.2009)