Fünf Tage mehr Urlaub bei Schwerbehinderung – auch rückwirkend

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Zusätzlicher Urlaub für schwerbehinderte Beschäftigte ist in Deutschland kein „Goodwill“ des Arbeitgebers, sondern ein gesetzlich verankerter Anspruch. Wer als schwerbehinderter Mensch gilt, erhält im Urlaubsjahr einen bezahlten Zusatzurlaub, der zum vertraglichen, tariflichen oder gesetzlichen Erholungsurlaub hinzukommt.

In der Praxis entstehen die meisten Fragen dort, wo Anerkennung und Nachweis der Schwerbehinderung zeitlich auseinanderfallen: Gilt der Anspruch schon vorher? Kann man die Tage nachträglich verlangen? Und was passiert, wenn ein Bescheid rückwirkend ergeht?

Was das Gesetz zum Zusatzurlaub sagt

Die Grundregel ist einfach: Schwerbehinderte Menschen haben Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen pro Urlaubsjahr. Gemeint ist damit die typische Fünf-Tage-Woche. Wer regelmäßig an mehr oder weniger Arbeitstagen pro Woche arbeitet, bekommt den Zusatzurlaub entsprechend angepasst.

Wichtig ist dabei: Der Zusatzurlaub steht neben dem „normalen“ Urlaub. Er wird nicht mit dem Mindesturlaub verrechnet, sondern oben drauf gerechnet. Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen können darüber hinausgehen, dürfen den gesetzlichen Zusatzurlaub aber nicht unterschreiten.

Wer anspruchsberechtigt ist – und wer ausdrücklich nicht

Anspruch auf den gesetzlichen Zusatzurlaub haben Beschäftigte, die als „schwerbehindert“ gelten. Das setzt einen Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 voraus.

Nicht zu verwechseln ist das mit der Gleichstellung: Menschen mit einem GdB von 30 bis unter 50 können unter bestimmten Voraussetzungen von der Agentur für Arbeit schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden. Diese Gleichstellung bringt viele Schutzrechte im Arbeitsleben, den Zusatzurlaub nach § 208 SGB IX aber gerade nicht. Das ist im Gesetz ausdrücklich so geregelt.

Wie aus „fünf Tagen“ die richtige Zahl wird

Die fünf Tage sind kein fixer Block für alle, sondern beziehen sich auf die regelmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf die Woche. Wer zum Beispiel dauerhaft nur an vier Tagen pro Woche arbeitet, hat im Ergebnis auch nur „eine Arbeitswoche“ Zusatzurlaub, also vier zusätzliche Urlaubstage. Bei einer Sechs-Tage-Woche werden es entsprechend sechs Tage.

Kommt die Schwerbehinderteneigenschaft nicht für das ganze Kalenderjahr zusammen – etwa weil sie erst im Laufe des Jahres beginnt oder endet –, wird anteilig gerechnet. Das Gesetz knüpft an volle Monate an und rechnet pro vollem Monat ein Zwölftel des Jahresanspruchs; Bruchteile ab einem halben Tag werden aufgerundet.

Ab wann entsteht der Anspruch wirklich?

Hier liegt ein häufiger Denkfehler: Viele gehen davon aus, der Anspruch entstehe erst mit dem Bescheid oder erst mit dem Schwerbehindertenausweis. So einfach ist es nicht.

Das Bundesarbeitsgericht stellt klar, dass für den Anspruch auf Zusatzurlaub das objektive Vorliegen der Schwerbehinderung maßgeblich ist. Die behördliche Feststellung hat nach dieser Rechtsprechung keine „rechtsbegründende“, sondern nur eine feststellende Wirkung. Der Anspruch kann also – juristisch betrachtet – schon entstehen, obwohl der Bescheid noch nicht vorliegt.

In der Realität bleibt der Bescheid trotzdem das entscheidende Beweismittel. Denn im Streitfall muss die Schwerbehinderteneigenschaft belegt werden, und dafür ist die Feststellung der zuständigen Behörde in aller Regel der Dreh- und Angelpunkt der Nachweisführung.

„Rückwirkend“: Was damit gemeint ist – und welche Grenzen sofort greifen

Wenn von „rückwirkend“ die Rede ist, sind meistens zwei Konstellationen gemeint.

Die erste ist die Rückwirkung im Verwaltungsverfahren: Feststellungen zur Schwerbehinderung wirken häufig auf den Zeitpunkt zurück, ab dem der Antrag gestellt wurde. Das Bundesarbeitsgericht spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Feststellung nach § 152 SGB IX „regelmäßig zurückwirkt“, und zwar auf einen Zeitpunkt seit Antragstellung.

Auch Krankenkassen-nahe Informationsangebote beschreiben, dass die Feststellung häufig rückwirkend an die Antragstellung anknüpft.

Die zweite Konstellation betrifft die arbeitsrechtliche Durchsetzung: Selbst wenn die Schwerbehinderung rückwirkend festgestellt wird, heißt das nicht automatisch, dass sich Zusatzurlaubsansprüche aus früheren Jahren unbegrenzt „ansammeln“.

Im Gegenteil: Das Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass die im Arbeitsverhältnis geltenden Regeln zur Übertragung in das nächste Jahr auch dann gelten, wenn die Schwerbehinderteneigenschaft rückwirkend festgestellt wird. Das Bundesarbeitsgericht weist darauf hin, dass damit eine Kumulation von Zusatzurlaub aus vergangenen Jahren verhindert werden soll.

Mit anderen Worten: „Rückwirkend“ kann den Anspruch entstehen lassen, aber Fristen entscheiden, ob er später noch realisiert werden kann.

Verfall und Mitwirkung: Warum Wissen des Arbeitgebers so wichtig werden kann

Auch beim Zusatzurlaub gelten die urlaubsrechtlichen Spielregeln aus dem Bundesurlaubsgesetz grundsätzlich mit. Dazu gehören Regeln, bis wann Urlaub genommen werden muss und unter welchen Umständen eine Übertragung ins Folgejahr möglich ist. Das Bundesarbeitsgericht betont, dass der Zusatzurlaub grundsätzlich das rechtliche Schicksal des Mindesturlaubs teilt.

Seit der neueren Rechtsprechung zum Urlaubsverfall hängt die „Befristung“ von Urlaubsansprüchen außerdem häufig davon ab, ob der Arbeitgeber seine Hinweis- und Aufforderungspflichten erfüllt hat.

Beim Zusatzurlaub gibt es dabei eine Besonderheit: Hat der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung und ist sie auch nicht offenkundig, kann der Zusatzurlaub trotz fehlender Hinweise verfallen. Das hat das Bundesarbeitsgericht ausdrücklich so entschieden.

Das klingt streng, folgt aber einer praktischen Logik: Der Arbeitgeber kann über einen Anspruch schwerbehindertenrechtlicher Zusatzurlaubstage kaum „richtig“ informieren, wenn ihm die anspruchsbegründende Eigenschaft nicht bekannt ist und auch nicht erkennbar war.

Der heikle Fall: Antrag gestellt, aber (zunächst) abgelehnt – und später doch rückwirkend anerkannt

Besonders lehrreich ist eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (9 AZR 367/21). Dort war dem Arbeitgeber bekannt, dass der Arbeitnehmer einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt hatte. Der Antrag wurde zunächst abgelehnt, später aber infolge weiterer Rechtsmittel rückwirkend doch anerkannt.

Das Gericht differenzierte: Informiert ein Arbeitnehmer den Arbeitgeber über den Antrag, trifft den Arbeitgeber grundsätzlich die Pflicht, die Realisierung des Zusatzurlaubs zu unterstützen. Kommt der Arbeitgeber diesen Pflichten bis zur ablehnenden Entscheidung nicht nach, kann der Anspruch für diesen Zeitraum nicht einfach zum Jahresende untergehen.

Nach einer Ablehnung verschiebt sich die Verantwortung aber erneut: Dann muss der Arbeitnehmer den Arbeitgeber über den weiteren Gang des Anerkennungsverfahrens informieren, also etwa darüber, dass Widerspruch eingelegt wurde oder ein Klageverfahren läuft.

Unterbleibt diese Info, kann der Zusatzurlaub trotz späterer rückwirkender Anerkennung nach den gesetzlichen Fristen verfallen. Genau das führte im entschiedenen Fall dazu, dass Zusatzurlaub aus einem Jahr noch bestand, aus dem Folgejahr aber nicht mehr.

Für die Praxis ist das eine der wichtigsten Botschaften: Rückwirkende Anerkennung öffnet nicht automatisch die Tür zu „zusätzlichen Urlaubspolstern“ aus mehreren Jahren, wenn Informationswege abreißen und Fristen ablaufen.

Zusatzurlaub bei Krankheit und am Ende des Arbeitsverhältnisses

Wie beim Mindesturlaub stellt sich die Frage nach Übertragung und Verfall besonders häufig bei längerer Arbeitsunfähigkeit. Die Grundsätze, nach denen Urlaubsansprüche bei Langzeiterkrankung nicht sofort verfallen, sondern in verlängerten Zeiträumen fortbestehen und dann später doch enden können, werden in der Praxis regelmäßig auch auf den Zusatzurlaub angewandt, weil dieser in weiten Teilen an das Urlaubsrecht „angelehnt“ ist.

Endet das Arbeitsverhältnis, wird nicht genommener Urlaub grundsätzlich in Geld abgegolten, wenn er nicht mehr genommen werden kann. Das betrifft nach der arbeitsgerichtlichen Linie auch den Zusatzurlaub, soweit er zu diesem Zeitpunkt noch besteht und nicht bereits verfallen ist.

Datenschutz und Kommunikation: Was Arbeitgeber wissen müssen – und was nicht

In vielen Betrieben zögern Beschäftigte, eine Schwerbehinderung offenzulegen. Das kann persönliche Gründe haben und ist nachvollziehbar. Gleichzeitig zeigt die Rechtsprechung, dass für den Zusatzurlaub und für die daran geknüpften Hinweispflichten des Arbeitgebers ein Mindestmaß an Information nötig sein kann, jedenfalls dann, wenn die Eigenschaft nicht offenkundig ist.

Dabei gilt: Für den Urlaubsanspruch ist keine Diagnosemitteilung erforderlich. Es geht arbeitsrechtlich um das Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft und gegebenenfalls um den Zeitraum, ab dem sie gilt.

In der betrieblichen Praxis genügt häufig die Vorlage einer entsprechenden Bescheinigung oder eines Nachweises, aus dem der Status und das Gültigkeitsdatum hervorgehen. Wie viel im Einzelfall erforderlich ist, hängt von der Organisation im Betrieb und vom konkreten Streitstand ab.

Fazit: Ja, es sind fünf Tage – aber „rückwirkend“ ist kein Selbstläufer

Der Zusatzurlaub von fünf Tagen pro Urlaubsjahr ist ein klarer Anspruch für schwerbehinderte Beschäftigte. „Rückwirkend“ kann dabei zweierlei bedeuten: Entweder wirkt eine Feststellung im Verwaltungsverfahren zeitlich zurück, sodass der Anspruch bereits für frühere Monate entsteht, oder es geht um die nachträgliche Durchsetzung für zurückliegende Urlaubsjahre. Gerade in der zweiten Konstellation entscheiden Fristen, Kenntnisfragen und die Kommunikation im Anerkennungsverfahren darüber, ob Zusatzurlaubstage tatsächlich noch genommen oder abgegolten werden können.