Erwerbsminderungsrente: Das Gutachten darf nicht nur auf Nachfragen beruhen

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Um eine Erwerbsminderung zu beurteilen, reichen bloรŸe Nachfragen eines Sachverstรคndigen nicht auf. Es kommt sowieso nicht entscheidend auf die spezifischen Diagnosen an, sondern auf objektiv nachgewiesene funktionelle Defizite.

So entschied das Landessozialgericht Baden-Wรผrttemberg und richtete sich damit gegen die Anerkennung einer Erwerbsminderung, die auf Nachfragen eines Sachverstรคndigen basierte, ob der Betroffene Stimmen hรถre. (L 10 R 3332/23).

Brรผche in der Erwerbsbiografie

Die Betroffene hatte ursprรผnglich als Schriftsetzerin gearbeitet. Nach Mutterschutz und Kindererziehung arbeitete sie als Verkรคuferin in einer Gรคrtnerei und war zeitweise erwerbslos. Sie absolvierte eine Ausbildung als Erzieherin und war als solche mehrere Jahre tรคtig โ€“ unterbrochen durch Zeiten der Arbeitsunfรคhigkeit.

Dann unterzog sie sich einer stationรคren Reha. Der รคrztliche Entlassungsbericht notierte eine Anpassungsstรถrung, hielt sie aber fรผr mehr als sechs Stunden pro Tag fรผr mittelschwere und leichte Tรคtigkeiten geeignet. Die Reha-ร„rzte erkannten einen Widerspruch zwischen der psychologischen Selbsteinschรคtzung und dem deutlich niedrigeren psychopathologischen Befund.

Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung

Die Betroffene beantragte wegen ihrer psychischen Probleme eine Rente wegen Erwerbsminderung. Sie gab als Begrรผndung zunehmenden Grund und Burnout an. Die Rentenversicherung lieรŸ die รคrztlichen Unterlagen auswerten und erkannte eine Anpassungsstรถrung. Darรผber hinaus hielt sie die Befunde der Reha fรผr zutreffend und erklรคrte, die medizinischen Voraussetzungen einer Erwerbsminderung seien nicht vorhanden.

Widerspruch mit neuen Angaben

Die Betroffene legte Widerspruch ein, und die Rentenkasse prรผfte diesen mit weiteren Befunden. Darin enthalten waren Angaben der Betroffenen รผber Konflikte am Arbeitsplatz und Diagnosen wie eine wiederkehrende depressive Stรถrung mit mittlerem AusmaรŸ sowie psychisch bedingte Herz- und Kreislaufprobleme. Das tรคgliche Arbeitsvermรถgen betrage maximal vier Stunden pro Tag โ€“ das entspricht dem Kriterium einer teilweisen Erwerbsminderung.

Die Betroffene gab zudem an, unter Atemnot und Herzrasen zu leiden sowie seelische Probleme zu haben. Sie interessiere sich fรผr Malerei und Kunst, male selbst und praktiziere Yoga. Sie koche selbst, erledige den Haushalt. AuรŸerhalb ihrer Teilzeitarbeit mache sie auch den Garten.

Depression maximal mittelwertig

Ein รคrztliches Gutachten sah keine strukturelle Herzerkrankung und einen stabilen Blutdruck. Die Frau gab zwar an, zwanghaft zu grรผbeln und diverse ร„ngste zu haben. Der Arzt sah indessen keine inhaltlichen Denkstรถrungen und insbesondere keine Wahn-, Zwang-, Ich-Stรถrungen oder Halluzinationen. Kรถrperlich-neurologisch gebe es keine Stรถrungen, die Depression sei leicht, maximal mittelwertig.

Es geht vor das Sozialgericht

Die tรคgliche Leistung liege bei mehr als sechs Stunden tรคglich leichte bis mittelschwere Tรคtigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Probleme gebe es allein qualitativ. So hรคtte die Betroffene eine geringe Stresstoleranz unter Zeitdruck und Probleme mit Konflikten. Nachtschichten und besondere Verantwortung fรผr Personen sei zu vermeiden.

Die Rentenversicherung wies den Widerspruch als unbegrรผndet zurรผck, und die Frau klagte vor dem Sozialgericht Freiburg im Breisgau.

Frau sieht ihre Erschรถpfungsdepression nicht berรผcksichtigt

Die Betroffene argumentierte vor allem, dass die Rentenversicherung ihre erhebliche Erschรถpfungsdepression nicht hinreichend berรผcksichtigt habe. Das Gericht fragte bei der Hausรคrztin nach, und diese betonte, dass es keine wesentliche ร„nderung des Gesundheitszustandes gegeben habe.

Die Rentenversicherung verwies auf eine fachรคrztliche Stellungnahme, nach der sich eine zeitliche Beschrรคnkung der Arbeitsleistung nicht erkennen lasse.

Gutachter diagnostiziert Schizophrenie

Das Sozialgericht holte bei einem weiteren Facharzt ein zusรคtzliches Gutachten ein. Dieser verwies darauf, dass die Betroffene ihm gegenรผber angegeben habe, seit 25 Jahren โ€žStimmen im Kopf zu habenโ€œ. Diese wรผrden inzwischen verstรคrkt auftreten.

Dieser Gutachter erkannte eine reduzierte Konzentration, akustische Halluzinationen, sowie Befรผrchtungen wegen Verfolgung und diagnostizierte eine Schizophrenie. Die Symptome wรผrden seit Jahren bestehen, und auch ihr Bruder leide an der Erkrankung, was fรผr eine genetische Ursache spreche.

Das tรคgliche Leistungsvermรถgen liege bei unter drei Stunden pro Tag und kรถnnen vermutlich durch eine Therapie auf drei bis unter sechs Stunden gesteigert werden. Demnach bestand aktuell eine volle Erwerbsminderung mit der Perspektive, diese auf eine teilweise Erwerbsminderung zu verbessern.

Die Rentenkasse zweifelte das Gutachten an. Dieses bestehe, laut Aussagen des Gutachters, im Wesentlichen aus Antworten der Betroffenen, deren Authentizitรคt der Arzt nicht รผberprรผft habe.

Sozialgericht erkennt volle Erwerbsminderung an

Das Sozialgericht schloss sich dem Gutachter jedoch an und entschied, dass die Rentenversicherung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auszahlen mรผsste. Die Rentenversicherung legte Berufung ein und vertiefte darin ihre Kritik am Gutachten, das Schizophrenie diagnostizierte.

Das Gutachten basiere ausschlieรŸlich auf subjektiven Angaben der Betroffenen, die der Betroffene nicht auf Plausibilitรคt und Konsistenz รผberprรผft habe. Konzentrationsstรถrungen zum Beispiel habe er gerade nicht nachweisen kรถnnen. Im Gutachten lieรŸe sich nicht erkennen, was Angaben der Betroffenen und was รคrztliche Befunde seien. Eine Erwerbsminderung liege nicht vor.

Landessozialgericht stimmt Rentenkasse zu

Die Richter am Landessozialgericht Baden-Wรผrttemberg stimmten der Rentenkasse zu. Das Gutachten fรผr die volle Erwerbsminderung enthalte keinen klinischen Befund, sondern lediglich Beschwerdeangaben der Betroffenen. Zudem lasse sich aus dem Gutachten nicht nachvollziehen, welche zeitlichen Leistungseinschrรคnkungen รผberhaupt vorliegen sollten.

Warum die Betroffene angeblich seit 25 Jahren akustische Halluzinationen habe, ohne dies zuvor gegenรผber ร„rzten erwรคhnt zu haben, erwรคhne das Gutachten nicht einmal. In diesen Jahren sei sie allerdings in der Lage gewesen, ihrer beruflichen Tรคtigkeit nachzugehen und ihre kognitiven Fรคhigkeiten seinen vollkommen unbeeintrรคchtigt gewesen.

Der Entlassungsbericht der Reha hรคtte jegliche Halluzinationen klar ausgeschlossen.

Die ร„rzte in der Klinik hรคtten sie ausfรผhrlich zu ihrer Lebensgeschichte und ihrem Krankheitsverlauf befragt. Es sei abwegig, dass sie das angebliche โ€žStimmen hรถrenโ€œ nur verschwiegen habe, weil die Mediziner nicht ausdrรผcklich danach gefragt hรคtten.

Das Landessozialgericht hielt die vorherigen Gutachten fรผr plausibel und in sich schlรผssig und entschied, dass keine Erwerbsminderung vorlag.