Fataler Gerichtsentscheid: Jobcenter dürfen jetzt Bürgergeld zu 100 Prozent unbegrenzt versagen

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Die Jobcenter dürfen Bürgergeld-Leistungen zu 100% zeitlich unbegrenzt bei fehlender Mitwirkung versagen, wenn der Leistungsanspruch nicht geprüft werden kann.

Wer trotz wiederholter Aufforderungen zur Mitwirkung diverse, konkret bezeichnete Unterlagen (wie Nachweis der Beendigung eines Gewerbes,Kontoauszüge, Nachweis Betriebsvermögen, und Erklärungen zu Überweisungen) nicht einreicht, dem streicht das Jobcenter die Leistungen nach dem SGB II gänzlich auf Null.

Das Jobcenter ist dabei berechtigt, das Bürgergeld zeitlich unbegrenzt zu versagen

Die Versagung hatte nicht unter einer in zeitlicher Hinsicht (bis zur Nachholung der Mitwirkung) auflösenden Bedingung bzw. Begrenzung zu erfolgen.

Denn die Versagung entfaltet ihre Wirkung – entsprechend einer Leistungsablehnung (vgl. BSG, Urteil vom 31. Oktober 2007 – B 14/11b AS 59/06 R –) – grundsätzlich ab Antragstellung unbegrenzt in die Zukunft.

Wenn ein Leistungsanspruch mangels Mitwirkung nicht geprüft und festgestellt werden kann, fehlt es an jeglicher Vergleichbarkeit der Versagung mit dem der sogenannten Sanktionsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16) zugrundeliegenden Sachverhalt.

Somit ist nach Ansicht des 1. Senats des LSG Berlin-Brandenburg eine 100 % Versagung von Bürgergeld- Leistungen (ab Antragstellung) auf – unbestimmte Zeit – gerechtfertigt!

Das gibt das Landessozialgericht Berlin – Brandenburg aktuell bekannt Az. L 1 AS 1102/24 – ( Urteil v. 15.04.2025 ).

Begründung des Gerichts

Der Kläger ist seiner Mitwirkungsobliegenheit aus § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I nicht bzw. nicht vollständig nachgekommen.

Für die beantragten SGB II-Leistungen ist zur Prüfung der Hilfebedürftigkeit die konkrete Einkommens- und Vermögenssituation im Sinne von §§ 11, 12 SGB II erheblich, weil die Hilfebedürftigkeit gemäß §§ 7 Abs. 1 Nr. 2, 9 SGB II eine der Tatbestandsvoraussetzungen für die Bewilligung von Bürgergeld ist.

Zur Feststellung der Bedürftigkeit war die Vorlage diverser Unterlagen erforderlich

Um die Bedürftigkeit des Klägers seit September 2023 feststellen zu können, war es zumindest erforderlich, dass der (im Widerspruchsverfahren eingegangene) Nachweis der Beendigung seines zwischenzeitlich ausweislich einer eingereichten Rechnung von Oktober 2023 betriebenen Gewerbes, des (bisher nicht nachgewiesenen) Betriebsvermögens der errichteten Kommanditgesellschaft, vollständige aktuelle Kontoauszüge der genutzten Konten, Erklärungen zu Überweisungen an ihn durch Dritte sowie seiner Versicherungszahlungen bezüglich eigener Kraftfahrzeuge erbracht wird.

Diese Nachweise hat der Kläger bis Anfang Januar 2024, aber auch noch im Widerspruchsverfahren jedenfalls nicht vollständig, insbesondere betreffend den Umfang seines Gewerbes und die Nachweise bezüglich Zahlungen auf und von seinen Konten überreicht.

Die zeitlich unbegrenzt erfolgte Versagung war auch nicht zu beanstanden

Sie hatte nicht unter einer in zeitlicher Hinsicht (bis zur Nachholung der Mitwirkung) auflösenden Bedingung bzw. Begrenzung zu erfolgen. Denn die Versagung entfaltet ihre Wirkung – entsprechend einer Leistungsablehnung (vgl. BSG, Urteil vom 31. Oktober 2007 – B 14/11b AS 59/06 R –) – grundsätzlich ab Antragstellung unbegrenzt in die Zukunft.

Sie hat sich hier erst mit der Bewilligung von SGB II-Leistungen ab dem 1. August 2024 auf sonstige Art und Weise erledigt.

Die Ermessensentscheidung des Jobcenters ist schließlich nicht zu beanstanden

Denn das Jobcenter hat im Einzelnen in den Aufforderungsschreiben aufgeführten Unterlagen zur Anspruchsprüfung ausgeführt, dass die Unterlagen erforderlich seien bzw. gewesen seien mit der Folge, dass mangels Mitwirkung nicht feststellbar sei, ob der Kläger überhaupt zum Kreis der Berechtigten gehöre. Aus diesem Grund sei auch keine teilweise Leistungsgewährung möglich gewesen.

Im Widerspruchsbescheid hat das JC ebenfalls ermessensgerecht ergänzt, es seien nur zumutbare Nachweis- und Mitwirkungshandlungen gefordert, Hinderungsgründe dagegen vom Kläger nicht mitgeteilt worden, so dass Anhaltspunkte, die ein Überwiegen der Interessen des Klägers an der Bürgergeldzahlung gegenüber den Interessen der Allgemeinheit rechtfertigten, nicht vorlägen.

Das Ermessen des Jobcenters war auch nicht angesichts der vollständigen Versagung des Regelbedarfs auf einen atypischen, indes vorliegend nicht konkret begründeten Fall begrenzt

Denn mangels Möglichkeit, die Bedürftigkeit des Klägers von Amts wegen überhaupt festzustellen, kommt es auf das Vorliegen eines – atypischen Falls bei der Versagung nicht an.

Offenbleiben kann insofern ebenfalls die Fallkonstellation einer Entziehung von (laufenden) Leistungen (vgl. zu einer Totalentziehung existenzsichernder Leistungen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 9. Mai 2023 – S 12 AS 2046/22 -)

Dahinstehen kann auch, dass in der Gesetzesbegründung selbst der Begriff -Sanktion- im Falle der ausbleibenden Mitwirkung verwendet wird (BT-Drs 7/868 S. 34).

Insofern muss die im Schrifttum erörterte Frage, ob § 66 SGB I in rechtlicher Hinsicht -Sanktionscharakter hat, nicht abschließend entschieden werden.

Denn jedenfalls zieht ein Vorgehen nach §§ 60 ff. SGB I von vornherein andere Rechtsfolgen nach sich als eine Entscheidung der Behörde über Sanktionen nach §§ 31 ff. SGB II

Letztere sind ohne jedes Ermessen aufgrund der Tragweite des Eingriffs kraft Gesetzes normiert und zwingend auszusprechen, während eine Nachholung von Versäumnissen, die zur Heilung des Pflichtenverstoßes führen könnte, im Rahmen der Sanktionsvorschriften (anders als in § 67 SGB I) nicht vorsehen sind.

Gerade diese Möglichkeit der Ermessensentscheidung über eine, und zwar sogar gegebenenfalls rückwirkende Nachholung zuvor versagter Leistungen sieht § 67 SGB I zum Schutz der zur Mitwirkung verpflichteten Person und gemessen am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausreichend vor.

Solange indes, wie hier, ein Leistungsanspruch mangels Mitwirkung nicht geprüft und festgestellt werden kann, fehlt es, wie ausgeführt, an jeglicher Vergleichbarkeit der Versagung mit dem der sogenannten Sanktionsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16) zugrundeliegenden Sachverhalt. Eine – Unterdeckung -, wie vom Kläger geltend gemacht, ist vorliegend gerade nicht objektivierbar.

Anmerkung vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock

Eine Entscheidung mit schwer wiegenden Folgen für den Vater.

Diese Gerichtsentscheidung wirft schwerwiegende Fragen zum Existenzminimum bei einer gänzlichen Versagung von Bürgergeld auf.

Denn auch wenn das Gericht die Frage nicht abschließend entscheiden wollte, bin ich als Sozialrechtsexperte der Meinung, dass eine 100% Versagung – Sanktionscharakter – hat ( mit Verweis auf in der Literatur zum Bürgergeld: Mrozynski, Kommentar zum SGB I, 6. Aufl. § 66 Rn. 1 m.w.N. und in der Rechtsprechung zum SGB II: LSG BB, Beschluss v. 16.06.2022 – L 29 AS 520/22 B ER – ).

Eine Versagung auf Dauer ist von § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I nicht gedeckt

Denn ein Versagungsbescheid muss zum Ausdruck bringen, dass die Leistung nur bis zur Nachholung der Mitwirkung versagt wird. Ein Hinweis am Ende des Bescheides, dass bei einer Nachholung der Mitwirkung und Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen geprüft werde, ob die Leistungen nachträglich ganz oder teilweise erbracht werden können und in diesem Fall die Entscheidung nochmals überprüft werde, ist nicht ausreichend, um den Endzeitpunkt der Versagung festzusetzen ( so zutreffend LSG München, Urteil v. 13.12.2023 – L 16 AS 382/22 – ).

Die Totalversagung von Bürgergeld auf eine unbestimmte Zeit gleicht einer Strafnorm, meint der Sozialrechtsexperte von Tacheles e. V.