Erwerbsminderungsrente: Heilbarkeit entscheidet nicht über die Rente

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Ob eine psychische Erkrankung grundsätzlich als heilbar gilt, entscheidet lediglich daürber, ob eine Rente befristet oder unbefristet gewährt wird. Heilbarkeit stellt aber nicht den Rentenanspruch selbst in Frage. So entschied das Landessozialgericht Baden-Württemberg. (L 9 R 1194/19)

Arbeitsunfähig und schwerbehindert

Die gelernte Justizfachangestellte war zuletzt in der Pflege beschäftigt. Sie erkrankte arbeitsunfähig, bezog Krankengeld, denn Übergangsgeld, dann Arbeitslosengeld. Zudem bezieht sie eine Witwenrente. Seit 2017 ist bei ihr ein Grad der Behinderung von 50 anerkannt, und damit gilt sie als schwerbehindert.

Reha mit Entlassung als vollschichtig erwerbsfähig

2016 führte sie mit Genehmigung der Rentenversicherung eine medizinische Rehabilitation durch, die stationär in einer Klinik stattfand. Diagnosen dort waren SIG-Irritationssyndrom beidseits im Sinne einer Spondylarthritis, rezidivierende Polyarthralgien, z.B. an den Schultern, Ellbogen, Kniegelenken, Verdacht auf eine Autoimmunerkrankung (Sweet-Syndrom), Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion und Adipositas. Mit Beschränkung auf leichte Tätigkeiten galt sie laut Entlassungsbericht als vollschichtig erwerbsfähig auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt.

Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung

Sie stellte einen Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Rentenversicherung prüfte diesen anhand der Befundberichte der behandelnden Ärzte und des Entlassungsberichts. Zudem ließ sie die Betroffene durch einen Facharzt für Innere Medizin, Rheumatologie, Sozialmedizin und Rehabilitationswesen begutachten.

Leichte Tätigkeiten sind mehr als sechs Stunden pro Tag möglich

Dieser hielt sie für fähig, körperlich leichte Tätigkeiten mehr als sechs Stunden pro Tag zu verrichten und damit für nicht erwerbsgemindert. Ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit könne sie allerdings nicht ausüben.

Betroffene kann nicht als Pflegehelferin arbeiten

Das Gericht führt aus: „Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Pflegehelferin sei dauerhaft nicht leidensgerecht. Sie leide unter einer chronischen Schmerzstörung mit körperlichen und psychischen Faktoren, angegebener bedarfsabhängiger Schmerztherapie mittlerer Stärke, insgesamt leichtgradiger Funktionseinschränkung der Wirbelsäule (vorwiegend LWS) bei kernspintomographischen Hinweisen auf Kreuzdarmbeingelenksaffektion (fragliche Sakroiliitis), aktuell keine ausreichenden Hinweise auf Morbus Bechterew, einer Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion, Bluthochdruck (Therapieverzicht), Ober- und Unterschenkelvarikosis beidseits und Adipositas.“

Betroffene sieht ihren Gesundheitszustand als falsch beurteilt an

Die Rentenversicherung stützte sich auf diesen Gutachten und lehnte den Antrag der Betroffenen ab. Die Frau legte Widerspruch ein und begründete diesen damit, dass der tatsächliche Gesundheitszustand falsch beurteilt sei. So seien ihre orthopädischen Leiden nicht ausreichend berücksichtigt, ebenso seien ihre Arthritis und eine mittlere Depression nicht erfasst worden.

Gutachter hält orthopädische und psychische Leiden für leicht

Der Gutachter nahm dazu Stellung und erklärte, auch unter Berücksichtigung dieser Punkte sei eine Tätigkeit von sechs Stunden und mehr pro Tag möglich. Die orthopädischen Leiden seien nur leichtgradig, und die Depression mit der durchgeführten Therapien ebenfalls im niedrigen Bereich. Die Rentenversicherung wies den Widerspruch zurück.

Klage vor dem Sozialgericht

Die Betroffene erhob Klage vor dem Sozialgericht Karlsruhe, wiederholte und vertiefte dabei ihre Argumente aus dem Widerspruch und gab an, sie leide an starken Schmerzen und Konzentrationsmangel und sei schwerwiegend eingeschränkt mit reduziertem Leistungsvermögen.

Die Richter hörten die behandelnden Ärzte als Zeugen an und beauftragten einen Neurologen, Psychiater, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie als Gutachter.

Leistung beträgt weniger als drei Stunden pro Tag

Dieser erkannte ein auf täglich unter zwei bis drei Stunden täglich herabgesetztes Leistungsvermögen. Das Hauptleiden falle in den Bereich der Psychiatrie mit einer rezidivierenden Depression mittleren Grades. Dieses bestehe seit einem Jahre zurückliegenden Erstgespräch.

Behandelnder Arzt sieht keine Stabilisierung

Er sei davon ausgegangen, dass sich das Leiden durch konsequente Psychotherapie und medikamentöse Behandlung stabilisieren lasse. Dies sei nicht möglich gewesen, wozu auch die zusätzlichen orthopädischen Beschwerden beigetragen hätten.

Deutliche Verschlechterung des psychischen Zustands

Ein behandelnder Allgemeinarzt sah eine deutliche Verschlechterung der psychischen Verfassung und erkannte ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden. Ein Rheumatologe sah hingegen eine volle Erwerbsfähigkeit für leichterte Tätigkeiten, erklärte aber auch, dass sich dies auf die orthopädischen Leiden beziehe, und dass die psychiatrischen Beschwerden möglicherweise ein anderes Bild ergeben würden.

Beschwerden sind behandelbar

Ein weiterer Arzt sah eine Verfestigung der psychiatrischen Beschwerden. Er erklärte:

„Die Erkrankungen seien durchaus behandelbar; es sei bislang keine Richtlinien-Psychotherapie erfolgt, was nicht zu Lasten der Klägerin gewertet werden könne. Möglich wäre auch eine Intensivierung der Psychopharmakotherapie. Die Wahl der therapeutischen Optionen obliege letztlich den behandelnden Ärztinnen und Ärzten. Eine Nachuntersuchung sollte zum Ablauf des Jahres 2020 erfolgen. Ein Zeitraum von mehr als anderthalb Jahren sei für eine Intensivierung der Behandlung ausreichend lang genug.“

Sozialgericht sieht Anspruch auf volle Erwerbsminderungsrente

Das Sozialgericht entschied, der Betroffenen müsse eine befristete volle Erwerbsminderungsrente gewährt werden. Die Rentenversicherung legte Widerspruch vor dem Landessozialgericht Baden-Württemberg ein und begründete dies damit, dass sie das Gutachten nicht überzeuge, dass wegen der psychischen Erkrankung nur eine Leistung von weniger als drei Stunden täglich annahm.

Die Wahl der Therapie liegt beim Arzt

Die Betroffene hielt dagegen: „Sie befinde sich in Behandlung und habe die ihr möglichen Behandlungsoptionen ausgeschöpft. (…) Die Wahl der therapeutischen Optionen obliege letztlich den behandelnden Ärzten. Neben dem psychiatrischen und psychosomatischen Beschwerdebild seien Gesundheitsstörungen auf rheumatologischem Fachgebiet betroffen. Auch wenn diese nicht im Vordergrund stünden, erschwerten sie doch ihren Alltag und die Erwerbsfähigkeit. Der Vorwurf, sie simuliere die gesundheitlichen Einschränkungen und psychiatrischen Beschwerden, werde entschieden zurückgewiesen.“

Erschöpfung und mangelnde Ausdauer

Das Landessozialgericht bestätigte das Urteil der ersten Instanz. Für den Zeitraum der Befristung sahen die Richter die Betroffene als nachgewiesen voll erwerbsgemindert an.

Sie führten aus: „Die psychischen Symptome führen insgesamt zu einer Minderung der Grundbefindlichkeit und einer Reduktion des energetischen Potentials. Es resultiert eine rasche Erschöpfbarkeit, was zur Folge hat, dass eine Beeinträchtigung der Grundarbeitsfähigkeit mit mangelnder Ausdauer, mangelnder Flexibilität, einer Minderung des Arbeitstempos, der Konzentration und der Merkfähigkeit besteht. Im Ergebnis hält der Gutachter damit für den Senat überzeugend derzeit aufgrund der vorliegenden Beeinträchtigungen eine berufliche Tätigkeit nicht für möglich.“

Fehlende Aufnahme ärztlicher Hilfe kann zur Krankheit gehören

Das Argument der Rentenkasse, die nicht voll ausgeschöpften Therapiemöglichkeiten zeigten einen fehlenden Leidensdruck, wiesen die Richter zurück. Bei psychiatrischen Erkrankungen sei ohnehin zu prüfen, ob eine fehlende wie eingeschränkte Wahrnehmung ärztlicher Hilfe Teil des Krankheitstbildes sei. Zudem befinde sich die Betroffene in ärztlicher Behandlung.

Übertreibung stellt nicht die Gesundheitsstörung in Frage

Die Behauptung der Rentenversicherung, die Betroffene übertreibe oder simuliere ihre psychiatrischen Symptome hielten die Richter nicht für stichhaltig:

„Im Hinblick darauf, dass die Grenze zwischen üblicher Betonung von Beschwerden in Begutachtungssituationen, Aggravation und Simulation fließend ist, ist eine Feststellung des Sachverständigen, ob trotz dieser Auffälligkeiten eine Gesundheitsstörung und daraus resultierende Leistungseinschränkungen vorliegen, vorzunehmen. Selbst Aggravation und Simulation schließen es nicht aus, dass die daneben bestehenden Störungen einen Rentenanspruch rechtfertigen.“

Behandelbarkeit entscheidet nicht über den Rentenanspruch

Auch das Argument der Rentenkasse, dass die therapeutischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft seien, sprach nach Ansicht des Gerichts nicht gegen eine Erwerbsminderung. Sie betonten, dass sie entsprechenden Urteilen nicht folgten.

Richter widersprechen vorherigen Entscheidungen

Die Richter widersprachen Entscheidungen, die davon ausgingen „psychische Erkrankungen würden erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant oder stationär) davon auszugehen sei, dass der Versicherte die psychischen Einschränkungen weder aus eigener Kraft noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe dauerhaft überwinden kann und darüber hinaus eine ungünstige Krankheitsbewältigung, eine mangelnde soziale Unterstützung, psychische Komorbiditäten sowie lange Arbeitsunfähigkeitszeiten vorliegen.“

Behandelbarkeit ist kein Maßstab für die Einschränkung der Leistung

Dies sei, so das Landessozialgericht, rechtlich nicht haltbar. Sie erklärten hingegen ihren anders gerichteten Standpunkt: „Die Frage der Behandelbarkeit einer psychischen Erkrankung ist für die Frage, ob eine quantitative Leistungsreduzierung tatsächlich vorliegt, nicht maßgeblich, sie ist vielmehr allein für die Befristung und Dauer einer Rente von Bedeutung.“

Die Betroffene erhält eine befristete volle Erwerbsminderungsrente

Mit diesem Fazit bestätigten sie das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe, wiesen die Berufung zurück und entschieden, dass die Betroffene Anspruch auf eine zeitlich befristete volle Erwerbsminderungsrente habe.