Ein Urteil des Sozialgerichts Nordhausen (S 20 R 1954/17) zeigt deutlich, wie wichtig eine sorgfรคltige medizinische Bewertung ist, wenn Menschen eine Erwerbsminderungsrente beantragen. Es macht klar, dass nicht nur einzelne Krankheiten zรคhlen.
Das Zรผnglein an der Waage, ob eine Erwerbsminderung vorliegt, kann vielmehr die gesamte Belastung des Alltags sein. Mehrere Einschrรคnkungen kรถnnen zusammen dazu fรผhren, dass Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr mรถglich ist.
Inhaltsverzeichnis
Soziale Phobie, psychische Erschรถpfung und Rรผckenschmerzen
Die Klรคgerin, Jahrgang 1950, beantragte 2016 eine Erwerbsminderungsrente. Die Rentenversicherung lehnte ab, weil sie meinte, die Frau kรถnne noch mindestens sechs Stunden tรคglich leichte Arbeiten ausรผben.
Sie legte Widerspruch ein โ ohne Erfolg. Sie klagte deshalb vor dem Sozialgericht. Erst vor Gericht wurde die gesamte gesundheitliche Situation vollstรคndig berรผcksichtigt.
Ein unabhรคngiger medizinischer Sachverstรคndiger stellte fest:
โข Soziale Phobie: starke Angst in sozialen Situationen
โข Leichte Intelligenzminderung
โข Essenzieller Tremor: dauerhaftes Zittern, welches die Feinmotorik erschwert
โข Psychische Erschรถpfung, Antriebslosigkeit und fehlende Belastbarkeit
โข Schmerzen im Rรผcken, die wiederkehren
โข Pflegegrad II, da sie tรคgliche Unterstรผtzung benรถtigt
Das Gericht erlebte selbst, wie schlecht es ihr ging: Schon nach kurzer Zeit in der Verhandlung konnte sie nicht mehr folgen, bekam einen ausgeprรคgten Tremor und musste รคrztlich versorgt werden. Der Sachverstรคndige stellte eindeutig fest, dass die Klรคgerin weniger als drei Stunden tรคglich arbeiten kann โ und das dauerhaft.
Die Rentenversicherung blieb jedoch bei ihrer Meinung, ohne die medizinischen Begrรผndungen ausreichend zu erklรคren. Das Gericht hob deshalb die Bescheide der Rentenversicherung auf und sprach der Frau die unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Juni 2018 zu.
Warum dieses Urteil fรผr Betroffene so wichtig ist
Dieses Urteil zeigt drei wichtige Punkte: Mehrere Einschrรคnkungen zรคhlen erstens gemeinsam. Auch wenn einzelne Erkrankungen โfรผr sichโ nicht schwer genug wirken โ gemeinsam kรถnnen sie das gesamte Leistungsvermรถgen massiv einschrรคnken. Diesen Effekt nennt man im Recht โSummierung ungewรถhnlicher Leistungseinschrรคnkungenโ.
Die Richter stellten fรผr diesen Fall eine Richtlinie klar, die sich auch auf andere Betroffene รผbertragen lรคsst: Wenn viele kleine Einschrรคnkungen zusammen das Arbeitsfeld stark einengen, ist es oft nicht realistisch, dass noch ein geeigneter Arbeitsplatz existiert.
Pflegegrad und Pflegegutachten dรผrfen berรผcksichtigt werden
Ein Pflegegutachten allein beweist zweitens zwar keine Erwerbsminderung. Aber es ist eine zusรคtzliche Informationsquelle, weil es zeigt, wie der Alltag tatsรคchlich funktioniert. Hier betonten die Richter, wie wichtig Einschรคtzungen von Pflegekrรคften sein kรถnnen, die oft einen besseren Einblick in die Lebenswirklichkeit Betroffener haben als hinzugezogene Fachรคrzte.
Die Unwahrscheinlichkeit einer Verbesserung
Das Gericht entschied auf eine unbefristete Rente, weil die Frau seit Jahren in Behandlung war, eine Reha und eine stationรคre Behandlung keine Besserung brachten, und weitere Therapien zwar denkbar sind, aber nicht realistisch zu einer Verbesserung der Arbeitsfรคhigkeit fรผhren. Damit zeigte das Gericht: Es reicht nicht, dass eine Therapie theoretisch existiert โ es muss realistisch sein, dass sie wirkt.
Was Betroffene aus dem Urteil lernen kรถnnen
Legen Sie erstens alle Erkrankungen vollstรคndig dar. Nicht nur die Hauptdiagnose zรคhlt. Auch Begleiterkrankungen, psychische Belastungen, kognitive Einschrรคnkungen oder Funktionsbeeintrรคchtigungen mรผssen dokumentiert sein.
Zweitens sollten Sie den Pflegegradย unbedingt erwรคhnen: Selbst wenn das Pflegegutachten nicht den โVollbeweisโ liefert, hilft es sehr bei der Einschรคtzung der Alltagsbelastung. Gutachten der Rentenversicherung drittens kritisch prรผfen: Wenn das Gutachten unklar begrรผndet ist oder wichtige Befunde nicht berรผcksichtigt, sollten Sie Widerspruch einlegen oder klagen.
Eigene Grenzen offen darlegen
Das Gericht achtete stark darauf, wie die Klรคgerin sich in der Verhandlung zeigte. Fรผr Betroffene bedeutet das: Beschwerden nicht herunterspielen. Realistisch schildern, wie der Alltag aussieht.
Konkrete Handlungsanweisungen fรผr Betroffene
Wenn Sie eine EM-Rente beantragen wollen oder bereits abgelehnt wurden: Stellen Sie erstens sicher, dass alle Diagnosen dokumentiert sind. Fachรคrztliche Befundberichte sind entscheidend.
Reichen Sie zweitens Unterlagen ein, die den Alltag zeigen: Pflegegrad, Haushaltshilfen, ambulante Hilfen, Reha-Berichte, Klinikberichte.
Sprechen Sie drittens mit Ihrem Arzt darรผber, wie lange die Stรถrung besteht und ob sich die Symptome verschlechtert haben. Dauer spielt eine wichtige Rolle.
So verhalten Sie sich vor Gericht am besten
Bleiben Sie vor Gericht authentisch. Beschreiben Sie klar, was Sie kรถnnen und was nicht. Das Gericht beobachtet auch, wie Sie die Situation bewรคltigen โ wie im vorliegenden Fall.
Lassen Sie sich nicht verunsichern, wenn die DRV behauptet, Sie kรถnnten noch leichte Tรคtigkeiten ausรผben. Oft stimmen diese Einschรคtzungen nicht, wenn alle Einschrรคnkungen zusammen betrachtet werden.
Warum das Urteil Betroffenen Mut macht
Dieses Urteil zeigt sehr deutlich: Gerichte prรผfen genau und รผbernehmen nicht einfach die Einschรคtzung der Rentenversicherung. Auch Erkrankungen, die schwer zu messen sind โ wie รngste, Tremor oder geistige Einschrรคnkungen โ kรถnnen zu voller Erwerbsminderung fรผhren.
Viele Betroffene erleben, dass ihre Beschwerden โnicht ernst genugโ wirken. Das Urteil zeigt jedoch: Die Gesamtsituation zรคhlt, nicht nur einzelne Diagnosen. Unbefristete Renten sind mรถglich, wenn die Gesamtlage dauerhaft ist.




