EM-Rente – Krankheit allein begründet keinen Anspruch auf Erwerbsminderung

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Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) hat ein aufsehenerregendes Urteil zur Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) gefällt. In dem Verfahren hob der 3. Senat eine erstinstanzliche Entscheidung des Sozialgerichts Gelsenkirchen auf, das einer Klägerin zuvor eine befristete EM-Rente zugesprochen hatte.

Das LSG wies die Klage ab und verhängte zusätzlich Missbrauchskosten in Höhe von 1.000 Euro. Das Urteil unterstreicht, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen allein nicht genügen: Entscheidend sind die rechtlichen und medizinischen Tatbestandsvoraussetzungen des § 43 SGB VI sowie deren Nachweis im maßgeblichen Zeitraum.

Der Fall: Vom erstinstanzlichen Zuspruch zur vollständigen Abweisung

Die Klägerin hatte im Mai 2016 eine EM-Rente beantragt. Das Sozialgericht verurteilte die Rentenversicherung im April 2021, eine befristete Rente ab Antragstellung zu zahlen.

Auf die Berufung der Deutschen Rentenversicherung änderte das LSG das Urteil jedoch ab: Die Klage wurde insgesamt abgewiesen, außergerichtliche Kosten wurden nicht erstattet, und wegen missbräuchlicher Fortführung des Rechtsstreits wurden der Klägerin 1.000 Euro auferlegt.

Damit korrigierte das LSG nicht nur die medizinische und versicherungsrechtliche Bewertung, sondern auch formale Fehler des erstinstanzlichen Tenors.

Der rechtliche Rahmen: Was § 43 SGB VI verlangt

Für einen Anspruch auf EM-Rente müssen Versicherte drei Voraussetzungen erfüllen.

Erstens muss eine rentenrechtlich relevante Erwerbsminderung vorliegen.

Zweitens sind in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung grundsätzlich 36 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen erforderlich.

Drittens muss die allgemeine Wartezeit erfüllt sein. Nicht erwerbsgemindert ist, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich arbeiten kann; teilweise erwerbsgemindert ist, wer diese Schwelle unterschreitet, voll erwerbsgemindert ist, wer dauerhaft weniger als drei Stunden leisten kann.

Diese Schwellenwerte – die sogenannte „Sechs-Stunden-Regel“ – sind das medizinisch-rechtliche Kriterium.

Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich

Das LSG stützte sich auf mehrere Gutachten aus verschiedenen Fachrichtungen und gelangte zu einer klaren Leistungsbeurteilung: Die Klägerin konnte leichte Tätigkeiten unter üblichen Marktbedingungen mindestens sechs Stunden täglich verrichten.

Hinweise auf eine schwerwiegende psychische Erkrankung im für den Anspruch maßgeblichen Zeitraum sah der Senat nicht hinreichend belegt; inkonsistente Befundlagen, mangelhafte Therapiadokumentation sowie fehlende Objektivierbarkeit einzelner Symptome schwächten die Belastbarkeit der vorgelegten Befunde.

Ereignisse nach dem letztmals erfüllten Beitragszeitraum – etwa spätere Krankenhaus- oder Reha-Episoden – waren für die Entscheidung ohne Anspruchsrelevanz. Damit fehlte es bereits an der medizinischen Grundvoraussetzung.

Die versicherungsrechtliche Hürde: 36 Pflichtbeitragsmonate im Fünfjahreszeitraum

Neben der medizinischen Bewertung prüfte der Senat die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen. Ausgehend vom letztmals erfüllten Zeitpunkt der besonderen Voraussetzungen stellte das Gericht fest, dass die erforderlichen 36 Pflichtbeitragsmonate nur bis Ende November 2021 vorlagen.

Darüber hinaus fehlten rentenrechtliche Zeiten. Damit scheiterte der Anspruch – selbständig neben der medizinischen Würdigung – auch an der fehlenden Wartezeit im relevanten Fünfjahreskorridor.

Das LSG erinnerte daran, dass Ausnahmen – insbesondere die vorzeitige Wartezeiterfüllung – nur in eng definierten Konstellationen eingreifen, etwa bei Arbeitsunfall oder bestimmten Ausbildungsfällen. Anknüpfend an Recht und Verwaltungspraxis gilt: Ohne die 36 Pflichtbeitragsmonate im maßgeblichen Zeitraum besteht grundsätzlich kein Anspruch.

Ausnahmefälle: Vorzeitige Wartezeiterfüllung bleibt die seltene Ausnahme

Das Sozialrecht kennt Ausnahmen von der 36-Monate-Regel, doch diese sind eng. Eine vorzeitige Wartezeiterfüllung kommt etwa in Betracht, wenn die volle Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eintritt, der die allgemeine Wartezeit ersetzt, typischerweise ein Arbeitsunfall oder bestimmte Ausbildungsnahe Konstellationen.

Auch hierzu existiert gefestigte Rechtsprechung. Für Betroffene bedeutet das: Nur wenn die Voraussetzungen dieser Ausnahmetatbestände schlüssig dargelegt und bewiesen werden, lässt sich der Beitragsmangel überwinden.

Kostensanktion: Wenn das Prozessrisiko zur Kostenfalle wird

Besondere Beachtung verdient die Kostenentscheidung. Das LSG legte der Klägerin Missbrauchskosten nach § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG auf. Die Norm ermöglicht es, bei missbräuchlicher Rechtsverfolgung oder Fortführung eines aussichtslosen Verfahrens eine pauschale Kostenlast zu verhängen.

Nach der Neufassung der Vorschrift ist die Auferlegung solcher Kosten erleichtert worden. Für Klägerinnen und Kläger heißt das: Wer trotz eindeutiger Hinweise des Gerichts ein aussichtsloses Begehren weiterverfolgt, riskiert empfindliche Zusatzkosten – im vorliegenden Fall 1.000 Euro.

Was das Urteil praktisch bedeutet

Das Urteil bestätigt mit großer Klarheit die strenge Zweistufigkeit des Prüfprogramms bei der EM-Rente. Zunächst ist medizinisch zu klären, ob die Leistungsfähigkeit unter sechs Stunden täglich gesunken ist und ob dies auf nicht absehbare Zeit gilt.

Erst dann lohnt der Blick auf die versicherungsrechtlichen Hürden. Fehlt eines der Elemente, scheitert der Anspruch. Für ältere Versicherte und Personen mit diskontinuierlichen Erwerbsbiografien ist der Blick auf die Beitragskonten ebenso wichtig wie die lückenlose medizinische Dokumentation.

Wichtig ist zudem der richtige zeitliche Zuschnitt: Es kommt auf die Verhältnisse im Fünfjahresrahmen vor Eintritt der Erwerbsminderung an, nicht auf spätere Verschlechterungen, die außerhalb dieses Zeitraums liegen.

Konsequenzen für Verfahren: Sorgfalt vor Schnelligkeit

Das Verfahren zeigt, wie wichtig eine konsistente Beweisführung ist. Medizinische Gutachten müssen zueinander passen, Befunde sollten reproduzierbar sein, Therapiepfade schlüssig dokumentiert werden.

Ebenso zentral ist die versicherungsrechtliche „Hausaufgabe“: Beitragszeiten – einschließlich Kindererziehungs- und Pflegezeiten – sollten frühzeitig geklärt, Nachweise vollständig zusammengetragen und mögliche Ausnahmetatbestände rechtlich sauber begründet werden. Wer gerichtliche Hinweise ignoriert, setzt sich nicht nur einem materiellen Risiko aus, sondern auch prozessualen Sanktionen.

Fazit: Ein Warnsignal – und eine Orientierungshilfe

Die Entscheidung des LSG NRW ist ein deutliches Warnsignal: Eine EM-Rente wird nur gewährt, wenn sowohl die medizinischen als auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zweifelsfrei erfüllt sind. Krankheit als solche genügt nicht.

Die Sechs-Stunden-Schwelle bleibt das Nadelöhr der medizinischen Prüfung; die 36-Monate-Anforderung im Fünfjahreskorridor ist die zweite, eigenständige Hürde. Wer ein Verfahren ohne tragfähige Grundlage fortsetzt, riskiert darüber hinaus Missbrauchskosten.

Für Betroffene empfiehlt sich daher eine frühzeitige, gründliche Prüfung des eigenen Leistungsvermögens und der Beitragsbiografie – idealerweise mit fachkundiger Beratung.