Bundesverfassungsgericht: Sieben Klagen zu verschiedenen Bewilligungszeitrรคumen stellen noch keine Vielzahl von Klagen dar! Eine wegweisende Entscheidung.
Einer Verfassungsbeschwerde wird statt gegeben wegen Verletzung der Rechte der Antragstellerin aus Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz.
Mit heutigem Tage gibt das Bundesverfassungsgericht bekannt, dass der Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 19. Juni 2024 – S 16 AY 102/22 – die Beschwerdefรผhrerin in ihrem Recht aus Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz verletzt ( Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24.05.2025 – 1 BvR 1902/24 – ).
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Kostenentscheidung eines Sozialgerichts
Das Bundesverfassungsgericht gibt die Verfassungsbeschwerde der Klรคgerin statt, denn bei sieben Verwaltungs- und/oder Gerichtsverfahren, die zudem teilweise unterschiedliche Leistungszeitrรคume betreffen, kann von einem โรberziehenโ mit einer โVielzahlโ von Verfahren nicht die Rede sein.
Auch ist nicht erkennbar, dass diese sieben Verfahren besonders hohen Verwaltungsaufwand ausgelรถst haben. Die Behรถrde muss der Klรคgerin die Kosten erstatten, so die obersten Richter.
Willkรผrliche Kostenentscheidung nach Untรคtigkeitsklage โ Grรผnde
Denn der angegriffene Beschluss des Sozialgerichts verletzt Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprรคgung als Willkรผrverbot.
Ein Richterspruch verstรถรt nach stรคndiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere dann gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Ausprรคgung als Verbot objektiver Willkรผr (Art. 3 Abs. 1 GG), wenn der Inhalt einer Norm in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird. Dabei kommt es darauf an, ob die Entscheidung im Ergebnis nicht vertretbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juni 2023 – 1 BvR 524/22 -; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Mai 2024 – 1 BvR 1021/24 – ).
Auch die weiteren Voraussetzungen fรผr eine stattgebende Kammerentscheidung des ยง 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maรgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden.
Offenbleiben kann, ob der Beschluss zudem gegen Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 sowie Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verstรถรt.
Bundesverfassungsgericht teilt nicht Auffassung der Behรถrde zur Ruhestellung des Verfahrens
Denn die Auffassung der Behรถrde, die Beschwerdefรผhrerin hรคtte das รberprรผfungsverfahren bis zum Abschluss des bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens 1 BvL 3/21 ruhend stellen kรถnnen, ist ebenfalls nicht vertretbar, denn die ganz herrschende Auffassung in der sozialrechtlichen Rechtsprechung und Literatur geht generell davon aus, dass ein Leistungsberechtigter dem Ruhen des Verfahrens nicht mit Rรผcksicht auf ein anhรคngiges verfassungsgerichtliches Verfahren oder ein anhรคngiges Musterverfahren zustimmen muss (vgl. beispielhaft LSG Baden-Wรผrttemberg, Urteil vom 18. November 2010 – L 7 SO 2708/10 – ).
Einen zureichenden Grund konnte das Sozialgericht auch nicht vertretbar darin sehen, dass infolge des Ukrainekriegs eine kurzfristige und unvorhersehbare Arbeitsspitze entstanden sein soll. Der dahingehende Vortrag des Landkreises ist nicht belegt und auch im รbrigen als zureichender Grund fernliegend.
Anmerkung vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock
Eine Hammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, welcher ich folge, denn was Anderes wรผrde nur gelten, wenn die zeitgleiche Befassung mit mehreren Verfahren nur dann einen zureichenden Grund, wenn der Leistungsberechtigte die Verwaltung mit einer Vielzahl von Verfahren ย รผberzieht โ in der Regel mit der zusรคtzlichen Einschrรคnkung, dass sich darunter zudem Verfahren von geringer Bedeutung oder – mutwillig erhobene Antrรคge befinden (so zum Beispiel zum ALG II: SG Neuruppin, Gerichtsbescheid vom 5. Januar 2015 – S 26 AS 1623/13 -).
Diese neuste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Willkรผrliche Kostenentscheidung nach Untรคtigkeitsklage finden selbst verstรคndlich auch Anwendung bei Untรคtigkeitsklagen beim Bรผrgergeld/ Sozialhilfe!