Die jüngste Studie des Paritätischen Gesamtverbandes zur sozialen Lage von Bürgergeldbeziehenden zeichnet ein Bild, das in seiner Konkretion erschüttert:
Entbehrung ist für viele nicht abstrakte Statistik, sondern tägliche Erfahrung. Die Befunde verdichten sich zu einer klaren Message: Trotz Erhöhungen der Regelbedarfe in den Jahren 2023 und 2024 können Millionen Menschen Grundbedürfnisse nicht zuverlässig decken.
Die Debatte über Sanktionen trifft damit auf eine soziale Wirklichkeit, in der selbst das zweite Paar Schuhe oder eine vollwertige Mahlzeit keine Selbstverständlichkeit sind.
Ein Befund mit Alltagsszenen statt abstrakter Quoten
Die Studie berichtet, dass 2024 etwa jede zweite Person im Bürgergeld in materieller Entbehrung lebt – ein Vielfaches im Vergleich zu Haushalten ohne Bürgergeldbezug. Sichtbar wird das in Alltagsszenen: Wer überraschende Ausgaben von 1.250 Euro nicht stemmen kann, verschiebt notwendige Reparaturen oder greift zu teuren Ratenkäufen.
Wenn mehr als die Hälfte kaputte Möbel nicht ersetzen kann, verliert ein Zuhause an Funktionalität und Würde. Wenn knapp ein Drittel nicht einmal gelegentlich mit Freundinnen und Freunden essen oder trinken gehen kann, wird soziale Teilhabe zur Ausnahme.
Besonders drastisch sind die Zahlen zur Grundversorgung: Rund 31 Prozent der Betroffenen können sich nicht jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten; knapp 17 Prozent verfügen nicht über ein zweites Paar Schuhe. Diese Beispiele stehen für eine strukturelle Unterversorgung, die weit über individuelle Lebensstile hinausweist.
Die wachsende Armutslücke
Die Studie konzentriert sich besonders auf die wachsende Armutslücke – die Differenz zwischen verfügbarem Einkommen und der Armutsgrenze, die in Deutschland regelmäßig bei 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) veranschlagt wird.
Für Alleinlebende nennt die Studie eine Schwelle von 1.381 Euro monatlich; den Betroffenen fehlen dazu im Schnitt fast 500 Euro. Diese Lücke ist in den vergangenen Jahren gewachsen: Lag sie 2010 noch bei 308 Euro, betrug sie 2023 bereits 474 Euro.
Die Tendenz ist damit eindeutig aufwärts gerichtet – ein Hinweis darauf, dass das Sicherheitsnetz systematisch an Kaufkraft und gesellschaftliche Standards verliert.
Erhöhungen, die nicht ankommen: Inflation als stille Kürzung
Zwar wurden die Regelbedarfe 2023 und 2024 jeweils deutlich – um mehr als zehn Prozent – angehoben. Doch die Preisentwicklung der Jahre 2021 bis 2023 hat diese nominalen Zuwächse weitgehend aufgezehrt. Die Expertise beziffert den Kaufkraftverlust bei einem Singlehaushalt in dieser Zeit auf bis zu 1.012 Euro.
Real bedeutet das: Was auf dem Papier wie eine Entlastung aussieht, kompensiert lediglich die verteuerten Lebenshaltungskosten. Eine spürbare Verbesserung der finanziellen Spielräume ist nicht eingetreten. Wenn nun für 2025 und 2026 faktische Nullrunden im Raum stehen, droht die Armutslücke erneut größer zu werden – mit Konsequenzen für Ernährung, Wohnen und soziale Teilhabe.
„Skandal“ oder „Notwendigkeit“? Die politische Konfliktlinie
Die politische Debatte ist zugespitzt. Während die Bundesregierung Verschärfungen und strengere Sanktionsmöglichkeiten erörtert, mahnt der Paritätische an, die Realität der Betroffenen ernst zu nehmen. Hauptgeschäftsführer Dr. Joachim Rock spricht von einem „Skandal“, dass Millionen Menschen nicht einmal das Nötigste hätten.
Hinter dieser Wortwahl steht ein verfassungsrechtlicher Anspruch: Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern – nicht nur biologisch, sondern so, dass gesellschaftliche Teilhabe möglich bleibt. Die Studie bezweifelt, dass die aktuell bemessenen Leistungen diesem Auftrag gerecht werden.
Kinder in Armut: Verlorene Chancen im frühen Leben
Besonders gravierend ist der Blick auf Kinder und Jugendliche. Rund zwei Millionen Minderjährige wachsen nach Angaben des Paritätischen in Haushalten auf, in denen die Mittel für Ernährung, Kleidung, Bildung und soziale Aktivitäten nicht reichen.
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Bescheid prüfenDas hat Folgen, die über die Gegenwart hinausreichen: Wer früh Mangel erlebt, hat schlechtere Chancen in Schule und Ausbildung, verpasst Gelegenheiten und trägt das Risiko, Armut als Erwachsenenrealität fortzuschreiben. Bildungspakete und Einmalhilfen lindern Notlagen punktuell, ersetzen aber keine verlässliche Grundsicherung, die alltägliche Bedarfe abdeckt.
Was „materielle Entbehrung“ messbar macht
Materielle Entbehrung ist mehr als ein Einkommensindikator. Erfasst werden konkrete Einschränkungen im Lebensalltag: Kann ein Haushalt die Wohnung angemessen warm halten? Gibt es Rückstände bei Miete, Strom oder Heizung? Reicht das Geld für ausgewogene Ernährung, für notwendige Anschaffungen, für kleine soziale Aktivitäten?
Indem die Studie diese Dimensionen zusammenführt, zeigt sie, wo die Lücken tatsächlich aufklaffen. Die Aussagekraft liegt gerade in der Verbindung von Statistik und Lebenspraxis: Zahlen werden nicht abstrakt, sondern als verpasste Mahlzeiten, verschlissene Möbel oder unbeheizte Zimmer sichtbar.
Von der Ausnahme zur Regel: Das Abkoppeln vom Wohlstandszuwachs
Ein weiterer Befund betrifft die langfristige Entwicklung: Während die preisbereinigten Nettoeinkommen anderer Haushalte über Jahrzehnte gewachsen sind, verharren die Regelbedarfe real betrachtet nahe dem Niveau der späten 1990er Jahre.
Damit entsteht ein Auseinanderdriften zwischen gesellschaftlichem Standard und dem, was Grundsicherung leistet. Wer dauerhaft an der Untergrenze lebt, leidet nicht nur materiell, sondern auch symbolisch: Armut wird zur Erfahrung des Nicht-Dazugehörens. Dass Bürgergeldbeziehende nennenswert häufiger Zahlungsrückstände verzeichnen und die Wohnung nicht ausreichend heizen können, ist Ausdruck dieser Abkopplung.
Sanktionen in Zeiten des Mangels: Wirksamkeit und Nebenwirkungen
Die Diskussion über strengere Sanktionen setzt voraus, dass Fehlanreize das zentrale Problem seien.
Die Expertise hält dem entgegen, dass die Mittel vieler Haushalte schon für das Notwendige nicht reichen. Sanktionen, so die Kritik, könnten in dieser Lage vor allem destabilisierend wirken, weil sie ohnehin knappe Budgets weiter verknappen.
Auch integrationspolitisch ist fraglich, ob zusätzliche Druckinstrumente den Weg in Arbeit erleichtern, wenn parallel Mittel für Mobilität, Kleidung oder digitale Teilhabe fehlen. Dagegen steht das politische Argument, Verbindlichkeit im Leistungsbezug zu sichern. Beides lässt sich nicht gegeneinander ausspielen, ohne die empirische Ausgangslage zu beachten.
Was jetzt zu prüfen wäre: Bemessung, Indexierung, Teilhabe
Die Studie plädiert für eine strukturelle, dauerhafte Anhebung der Regelbedarfe. Der Prüfauftrag an die Politik reicht darüber hinaus. Erstens stellt sich die Frage einer robusteren, transparenten Bemessung, die reale Warenkörbe und Mindeststandards abbildet.
Zweitens rückt eine dynamische, inflationsfeste Indexierung in den Blick, die Kaufkraftschwankungen zeitnah ausgleicht.
Drittens geht es um die Architektur der Leistungen selbst: Wohnkosten, Energie, Gesundheit, Mobilität und digitale Infrastruktur haben sich verteuert – ohne angemessene Berücksichtigung drohen Lücken, die einzelne Erhöhungen wieder auffressen.
Viertens muss Kinderarmut als eigener Schwerpunkt verstanden werden; Investitionen in frühe Bildung, Ernährung und Teilhabe sind sozial- wie fiskalpolitisch rational.
Ein sozialstaatlicher Stresstest
Am Ende steht ein sozialstaatlicher Stresstest. Das Bürgergeld soll Menschen in schwierigen Lebenslagen Sicherheit und Perspektiven geben. Es sichert offenkundig das Überleben, aber nach Einschätzung der Expertise zu selten ein Leben in Würde und Teilhabe.
Das ist nicht nur eine Frage von Empathie, sondern von Verfassung und Vernunft. Wo Mangel an Basalem zur Regel wird, verliert der Sozialstaat an Legitimation. Die vorliegenden Zahlen liefern der Politik die Grundlage, gegen zu steuern.