Viele Jobcenter verbinden bis heute zwei Schritte in einem Verwaltungsakt: Sie heben eine frühere Bürgergeld-Bewilligung ganz oder teilweise auf und fordern einen vermeintlichen Überzahlungsbetrag zurück (Erstattungsbescheid).
Zugleich ordnen sie an, dass diese Forderung durch monatliche Abzüge vom laufenden Bürgergeld getilgt wird (Aufrechnung). Für Betroffene bedeutet das regelmäßig sofort weniger Geld – obwohl die Rückforderung häufig noch strittig ist.
Genau diese „Kombi-Praxis“ liegt jetzt dem Bundessozialgericht (BSG) vor. Ein angesetzter Termin im Mai 2025 im Verfahren B 4 AS 18/24 R wurde ohne mündliche Verhandlung erledigt; der Senat sah sich an einer Entscheidung gehindert, die Grundsatzfrage bleibt also ungeklärt.
Inhaltsverzeichnis
Was das BSG konkret verhandeln soll
Beim 4. Senat sind die Revisionsverfahren B 4 AS 18/24 R und B 4 AS 12/25 R anhängig, beide mit derselben Leitfrage: Darf das Jobcenter die Aufrechnung bereits im selben Bescheid erklären, in dem es die Erstattungsforderung festsetzt, oder bedarf es einer bestandskräftigen Rückforderung als Grundlage?
Laut der aktuellen BSG-Übersicht ist für B 4 AS 18/24 R ein voraussichtlicher Termin am 23. September 2025 genannt. Parallel befasst sich der 7. Senat mit identischer Rechtsfrage unter dem Aktenzeichen B 7 AS 13/25 R. Damit ist absehbar, dass das höchste deutsche Sozialgericht die Praxis der „Kombinationsbescheide“ grundlegend überprüfen wird.
Zerrissene Vorinstanzen
Die Landessozialgerichte urteilen bislang uneinheitlich. Während etwa das LSG Niedersachsen-Bremen Konstellationen bejaht hat, in denen die Aufrechnung schon im Erstattungsbescheid erklärt wird, haben andere Gerichte – wie in dem dem 4. Senat vorliegenden Thüringer Fall – diese Vorgehensweise verworfen.
Die künftige BSG-Entscheidung wird daher nicht nur die Verwaltungspraxis ordnen, sondern auch die Frage beeinflussen, ob ein Widerspruch die Vollziehung der Abzüge stoppt und wie Betroffene ihren Rechtsschutz effektiv sichern können.
Die beim BSG veröffentlichten Termininformationen und Rechtsfragensammlungen unterstreichen den Grundsatzcharakter des Streits.
Was derzeit gilt: Grenzen der Aufrechnung
Bis zur höchstrichterlichen Klärung ist der Blick ins Gesetz wichtig. § 43 SGB II erlaubt nämlich Aufrechnungen gegen laufende Geldleistungen, unterscheidet aber zwischen typischen Nachberechnungen und sonstigen Forderungen.
Für Erstattungen nach § 41a SGB II oder nach § 48 SGB X in Verbindung mit § 50 SGB X gilt eine Obergrenze von 10 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs je Monat.
In anderen Fällen – etwa bei Ersatzansprüchen wegen sozialwidrigen Verhaltens – können bis zu 30 Prozent verlangt werden.
Insgesamt darf die Summe aus allen Aufrechnungen und der Tilgung von Jobcenter-Darlehen die Marke von 30 Prozent nicht überschreiten. Diese Kappung ist zwingend und schützt das Existenzminimum von Bürgergeld-Beziehern.
Aufschiebende Wirkung: Wann Widerspruch bremst – und wann nicht
Sozialrechtlich ist zu trennen zwischen Bescheiden, die laufende Leistungen aufheben oder mindern, und solchen, die eine Forderung festsetzen oder eine Aufrechnung erklären.
Gegen Aufhebungs-, Änderungs- oder Minderungsbescheide ordnet § 39 SGB II den Sofortvollzug an; Widerspruch und Klage haben hier keine aufschiebende Wirkung.
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Bescheid prüfenAnders liegt es grundsätzlich bei Erstattungs- und Aufrechnungsbescheiden: Hier greift die allgemeine Regel, dass Rechtsbehelfe aufschiebende Wirkung haben – es sei denn, die Behörde ordnet ausnahmsweise die sofortige Vollziehung an, wogegen Eilrechtsschutz möglich ist.
Für Betroffene entscheidet diese Differenz oft darüber, ob Abzüge sofort beginnen dürfen oder bis zur gerichtlichen Klärung ruhen.
„Monat bleibt Monat“: Keine pauschale Saldierung ohne klare Grundlage
Ein weiterer, für Nachberechnungen zentraler Punkt ist das Monatsprinzip. Das BSG hat 2023 klargestellt, dass monatliche Leistungsansprüche eigenständig festzusetzen sind. Monatsübergreifende Pauschalsaldierungen ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage sind unzulässig.
Diese Linie stärkt die Transparenz der Berechnung und erschwert „Alles-in-einen-Topf“-Verrechnungen zulasten der Leistungsberechtigten.
Alte Forderungen: Vier Jahre statt 30 – zur Verjährung von Erstattungen
Für ältere Rückforderungen ist die Verjährung entscheidend. Nach der ständigen Rechtsprechung verjähren Erstattungsansprüche aus bestandskräftigen Bescheiden grundsätzlich in vier Jahren (§ 50 Abs. 4 SGB X).
Eine 30-jährige Frist greift nur unter engen Voraussetzungen, etwa wenn ein neuer Verwaltungsakt zur Durchsetzung den besonderen Mechanismus des § 52 SGB X auslöst.
Ein fruchtloser Pfändungsversuch allein genügt dafür nicht. Das BSG hat diese Linie 2025 nochmals bekräftigt. Wer mit Abzügen aus Alt-Bescheiden konfrontiert ist, sollte daher zunächst die Verjährung prüfen.
Praktische Konsequenzen für Betroffene bis zur BSG-Entscheidung
Solange die Grundsatzfrage ungeklärt bleibt, gilt es, den eigenen Bescheid sorgfältig zu lesen. Stehen Erstattung und Aufrechnung im selben Schreiben, betrifft Sie der anhängige Rechtsstreit unmittelbar.
Rechtlich empfiehlt es sich, fristgerecht sowohl gegen die Erstattung als auch gegen die Aufrechnung Widerspruch einzulegen und die aufschiebende Wirkung für die Aufrechnung geltend zu machen, soweit nicht ausnahmsweise der Sofortvollzug angeordnet wurde.
Parallel sollten die Abzugssätze überprüft und mit den gesetzlichen Grenzen abgeglichen werden; auch Darlehenstilgungen zählen auf die 30-Prozent-Gesamtgrenze.
Bei älteren Forderungen kann die vierjährige Verjährungsfrist die entscheidende Weichenstellung sein. Diese Schritte dienen dazu, den Status quo zu sichern, bis das BSG die rechtlichen Leitplanken für „Kombinationsbescheide“ setzt.
Warum die BSG-Antwort weit über Einzelfälle hinausreicht
Die anstehenden Entscheidungen werden mehr klären als nur eine formale Frage der Bescheiderteilung. Sie betreffen das Verhältnis von Effizienz der Verwaltung und Rechtsschutz der Bürgergeld-Beziehenden, sie definieren die Reichweite der aufschiebenden Wirkung und sie wirken auf tausende laufende und künftige Verfahren.
Kommt das BSG zu dem Ergebnis, dass Aufrechnung und Erstattung nicht in einem Zug verfügt werden dürfen, müsste die Praxis vieler Jobcenter angepasst werden. Bestätigt es die Zulässigkeit, werden zugleich die Anforderungen an Begründung, Ermessensausübung und die Beachtung der Aufrechnungsgrenzen Maßstab sein. Klar ist schon heute: Die Rechtssicherheit in diesem hochsensiblen Bereich der Existenzsicherung hängt an der ausstehenden Leitentscheidung.