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SGB II: Bürgergeldempfänger, welche in einer Werkstatt für Behinderte arbeiten sind nicht gleich erwerbsunfähig, trotz gegenteiliger Meinung des Jobcenters
Ein Bürgergeldbezieher mit einem Grad der Behinderung von 40, welcher eine Arbeit in einer Werkstatt für Behinderte aufgenommen hat und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form von Übernahme der Maßnahmekosten erhält, ist nicht gleich – erwerbsunfähig – aufgrund der durch die BA geförderten Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen (Orientierungssatz).
Das 116 Kammer des SG Berlin gibt mit heutigem Beschluss ( Beschluss vom 09.08.2024 – S 116 AS 3726/24 ER – ) bekannt, dass wenn Leistungsbezieher nach dem Bürgergeld in einer Werkstatt für Behinderte arbeiten, das Jobcenter nicht gleich annehmen kann und darf, dass der Leistungsempfänger erwerbsunfähig wäre im Sinne des § 8 SGB II und somit die Leistungsvoraussetzungen für das Bürgergeld nicht mehr gegeben wären.
Das Jobcenter hob die bewilligten ALG II Leistungen auf und verwies den Antragsteller auf Beantragung von SGB XII Leistungen.
Eindeutig rechtswidrig sagt das Gericht, denn nach § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II ist eine lückenlose Bewilligung existenzsichernder Leistungen zu gewährleisten.
Die Aufhebung des Bürgergeldes hier wegen der angenommenen Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers war – rechtswidrig.
Rechtswidrig sagt das SG Berlin
Denn allein aufgrund der Aufnahme einer Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen kann nicht angenommen werden, dass Erwerbsunfähigkeit i. S. von § 8 Abs. 1 SGB II eingetreten ist und das Verfahren nach § 44 a SGB II entbehrlich ist, auch wenn nach §§ 41 Abs. 3a, 45 S. 3 Nr. 3 SGB XII ein solches Verfahren im Rahmen der Leistungen nach dem SGB XII nicht erforderlich ist.
Der Antragsteller gilt weiter als erwerbsfähig.
Nach Ansicht der Kammer ist nicht zu erkennen, dass das Verfahren nach § 44 a Abs. 1 SGB II abgeschlossen ist. Zwar geht aus den Akten des Jobcenters hervor, dass ein ärztliches Gutachten vorliegt.
Wer Leistungen zur Teilhabe in einer Werkstatt für behinderte Menschen erhält, ist erwerbsunfähig, so der Grundsicherungsträger nach dem SGB II
Jedoch ist dieses nicht bekannt, insbesondere von welchem Träger das Gutachten erstellt worden ist und welchen Aussagewert es hat. Das JC stützt den angenommenen Wegfall der Leistungsvoraussetzungen zudem nicht auf die Feststellungen des erwähnten Gutachtens, sondern darauf, dass der Antragsteller Leistungen zur Teilhabe in einer Werkstatt für behinderte Menschen erhält.
Aufgrund der durch die BA geförderten Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen kann allein jedoch nicht angenommen werden, dass Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist, und das Verfahren nach § 44 a Abs. 1 SGB II entbehrlich wäre.
Insbesondere ist der Antragsteller deshalb nicht schon aus rechtlichen Gründen erwerbsunfähig i. S. v. § 8 SGB II.
Für die Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 8 SGB II kommt es allein darauf an, in welchem Umfang nach den individuellen Möglichkeiten des Leistungsberechtigten unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch eine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden kann.
Was heißt erwerbsfähig im Sinne des SGB II
Aufgrund Krankheit oder Behinderung muss die Leistungsfähigkeit fehlen, drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Für behinderte Menschen gilt, dass sie auch dann als erwerbsfähig anzusehen sind, wenn sie unter Zuhilfenahme spezifischer, auf die Behinderung zugeschnittener Arbeitshilfen eine auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt übliche entgeltliche Tätigkeit zu Erwerbszwecken ausüben könnten.
Ob Erwerbsunfähigkeit oder Erwerbsfähigkeit vorliegt, ist nicht offensichtlich oder abschließend geklärt durch die Feststellung des Rentenversicherungsträgers nach § 44 a Abs. 1 SGB II. Ein solches Verfahren ist nicht entbehrlich
Dazu das SG Berlin wie folgt:
“Zwar bedarf es zum Zwecke der Sozialhilfe nach § 45 S. 3 Nr. 3 SGB XII keines – mit § 44 a Abs. 1 SGB II vergleichbaren – auf Feststellung der Erwerbsunfähigkeit gerichteten Verfahrens, wenn der Leistungsbezieher in einer Werkstatt für behinderte Menschen das Eingangsverfahren oder den Berufsbildungsbereich durchlaufen hat oder im Arbeitsbereich beschäftigt ist, oder nach § 45 S. 3 Nr. 4 SGB XII, wenn der Fachausschuss einer Werkstatt für behinderte Menschen über die Aufnahme in eine Werkstatt oder Einrichtung eine Stellungnahme abgegeben hat und dabei festgestellt hat, dass ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung nicht vorliegt.
Und nach § 41 Abs. 3 a SGB XII besteht eine Leistungsberechtigung nach dem SGB XII, wenn das Eingangsverfahren und der Berufsbildungsbereich in einer Werkstatt für behinderte Menschen durchlaufen wurde. Nach § 43 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) sind Versicherte erwerbsunfähig, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können. ”
§ 8 Abs. 1 SGB II verweist jedoch aber nicht auf diese Bestimmungen
Denn die tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen bedeutet nicht zwangsläufig, dass eine Tätigkeit wegen der Art oder Schwere der Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gar nicht möglich ist.
Es ist auch nicht zu erkennen, ob der Eingangsbereich und der Berufsbildungsbereich durchlaufen worden ist oder der Fachausschuss einer Werkstatt für behinderte Menschen eine Stellungnahme abgegeben hat, nach dem beim Antragsteller ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung nicht vorliegt.
Der Antragsteller hat einen GdB von 40, was von sich aus nicht auf eine volle Erwerbsunfähigkeit nach § 8 SGB II hindeutet.
Fazit der Kammer:
Es liegen die Voraussetzungen nach § 45 Abs. 1 S. 3 SGB X nicht vor. Die Antragsteller konnten auf den Bestand der Bewilligung vertrauen, zumal das Jobcenter die Mehrbedarfsleistungen aufgrund der geförderten Teilhabe am Arbeitsleben und das Ausbildungsgeld berücksichtigt hat, eine Anhörung unterblieben ist und das Verfahren nach § 44 a Abs. 1 S. 2 SGB II nicht durchgeführt worden ist.
§ 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II
Lückenlose Bewilligung existenzsichernder Leistungen ist zu gewährleisten
Regelungszweck des § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II ist nämlich, eine lückenlose Bewilligung existenzsichernder Leistungen zu gewährleisten, solange die Erwerbsfähigkeit und damit die Zuständigkeit der Träger nicht zwischen diesen bindend geklärt ist (Korte in LPK-SGB II, 6. Auflage 2017, § 44 a Rn. 23; Blüggel in Eicher, SGB II, § 44a Rn. 71).
Insofern konnten die Antragsteller im Vertrauen auf die Bestandskraft des Bewilligungsbescheides die (ggf. rechtzeitige) Beantragung von Leistungen nach dem SGB XII außer Acht lassen.
Dies kommt einer Vermögensdisposition gleich, auch wenn Leistungen für die Zukunft aufgehoben worden sind, denn mangels Klärung eines Anspruchs nach dem SGB XII ist eine lückenlose Bewilligung existenzsichernder Leistungen nicht gewährleistet, obwohl die Antragsteller nach Erhalt des Aufhebungsbescheides umgehend Leistungen beim SGB XII-Träger beantragt haben. Eine Entscheidung des SGB XII Trägers steht aus.
Wegen des grundrechtlichen Gewichts beim Entzug existenzsichernder Leistungen nach dem Bürgergeld muss die gesetzgeberische Wertung für die sofortige Vollziehbarkeit zurücktreten, zumal das JC im Fall eines für ihn positiv ausgehenden Verfahrens auf Erstattung der Leistungen durch den SGB XII- Träger zurückgreifen kann und der Umfang für zwei Monate überschaubar ist.
Die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage war hier daher anzuordnen.