Bürgergeld: Bundesverfassungsgericht wird über Pandemie-Mehrbedarf entscheiden

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Verschleppung von Anträgen, ein waschechter Justizskandal und die Weigerung einen Pandemie-Mehrbedarf für Hartz IV Beziehende (heutiges Bürgergeld) zu gewähren. Das alles ist einer Bürgergeld-Bezieherin passiert. Doch sie gibt nicht auf: Die Auseinandersetzung wird jetzt dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung durch das Sozialgericht Karlsruhe vogelegt.

Eine Hartz IV Bezieherin (Bürgergeld) verklagte das zuständige Jobcenter, ihr Mehrkosten für FFP-2 Masken während der Corona-Pandemie zu erstatten. Das Klageverfahren wird nach Artikel 100, Absatz 1, Satz 1 des Grundgesetzes ausgesetzt, bis eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vorliegt.

Worüber soll das Verfassungsgericht entscheiden?

Das Bundesverfassungsgericht soll erstens entscheiden über § 70 1 des SGB II zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zweitens zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der Pandemie (Sozialschutz-Paket III) 73 des SGB II als Regelung eines Sofortzuschlags und einer Einmalzahlung bei der Mindestsicherung.

Existenzminmimum, Sozialstaat und Allgemeine Gleichheit

Die Frage ist, ob diese Paragrafen vereinbar sind erstens mit der im Grundgesetz festgeschriebenen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Artikel 1, Absatz 1) zweitens mit dem Sozialstaatsprinzip (Artikel 20, Absatz 1) und drittens mit dem Allgemeinen Gleichheitssatz (Artikel 3, Absatz 1).

Worum ging es im konkreten Fall?

Die Klägerin hatte zwischen Januar 2021 und April 2022 kein Erwerbseinkommen. Sie meldete im Juni 2021 einen Kosmetiksalon als Gewerbe an, um aus der Erwerbslosigkeit zu kommen, erwarb hier aber nichts, insbesondere wegen der Pandemie.

Einen von der Klägerin am 1.2.2021 sinngemäß beantragten leistungserhöhenden Mehrbedarf für Hygienartikel zum Infektionsschutz gegen Coronaviren ignorierte das Jobcenter im Bewilligungsgescheid. Die Bescheidung des Antrags auf Mehrbedarf verzögerte sich vorerst um ganze 13 Monate bis März 2022.

Laut dem Sozialgericht Karlsruhe hatte das Jobcenter zuerst einmal einen objektiven Anlass, mit dem Bescheid zu warten, denn es bestand Rechtsunsicherheit. Das Sozialgericht Karlsruhe hatte die im § 70 SGB II geplante einmalige Zahlung für einen Mehrbedarf für Hartz IV Beziehende als voraussichtlich verfassungswidrig erachtet.

Es war also ein Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsbericht zu erwarten, um verfassungsrechtlich zu klären, welche Form der Auszahlung des Mehrbedarfs verfassungskonform sei.

Ein Justizskandal verzögert die Klärung

Hinzu kam ein Justizskandal. Die Justizverwaltung des Landes Baden-Würtemberg schüchterte den Kammervorsitzenden der 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe monatelang ein und störte ihn dabei, die entsprechende Vorlage an das Bundesverfassungsgericht vorzubereiten.

Dazu gehörte eine mutmaßliche Zensur, in der weisungsgebenen Untergebenen verboten wurde, zu der vermuteten Verfassungswidrigkeit der Einmalzahlung öffentlich Stellung zu beziehen. Eine Remonstrierung blieb unbeantwortet.

Das Justizministerium Baden Würtemberg verschleppte die Einstellung eines Disziplinarverfahrens gegen den Kammervorsitzenden, nachdem dieser zahlreiche ihm wahrheitswidrig angelastete Tatsachen widerlegt hatte. Trotz der Einschüchterungen beschloss das Sozialgericht Karlsruhe, dem Verfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorzulegen, ob § 70 Satz 1 SGB II mit Artikel 1 Absatz 1; Artikel 20 Absatz 1 und Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes vereinbar sind.

Ablehnungsbescheid Mehrbedarf Masken
Das Jobcenter schickte der Klägerin am 11.3.2022 einen „Ablehnungsbescheid Mehrbedarf”. Sie und alle in ihrer Bedarfgemeinschaft hätten einen Anspruch auf einmalig zehn kostenlose FFP2-Masken. Außerdem erhielte sie für die Mehraufwendungen eine Einmalzahlung in Höhe von 150 Euro.

Die Klägerin verwies darauf, dass die Einmalzahlungen 2021 und 2022 in Höhe von jeweils 150 Euro und 200 Euro weder rechtzeitig gekommen noch ausreichend gewesen seien und sich zudem die Lebensmittel zwischenzeitlich verteuert hätten.

Gericht stimmt Klägerin zu

Das Sozialgericht erörterte mit der Klägerin die Frage, ob § 70 und § 73 SGB II mit dem Grundrecht eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar seien. Der Kammervorsitzende stimmte der Klägerin zu und verwies auf die Anfang 2021 sehr hohen Preisen für pandemiebedingte Hygieneprodukte. Auch später seien diese nicht durch Einsparungen in anderen Bereichen kompensierbar gewesen. Auch die Einmalzahlungen laut § 73 SGB II im Mai 2021 und im Juli 2022 hätten die existenzsichernden Bedarfe nicht decken können.

„Existenzsicherung bedeutet nicht Fremdverantwortung“

Die Gesundheitsfürsorge für nicht gedeckten Mehrbedarf an FFP-2 Masken falle zudem nicht unter die konkrete Verwendung des pauschalierten Bürgergeld-Regelbedarfs. Es handle sich nicht um ein eigennütziges Konsumgut. Die Hygieneartikel seien straf- sowie bußgeldbewährt vorgeschrieben gewesen und somit keine freie Wahl.

Der Infektionsschutz diene außerdem dem Allgemeinwohl, und es sei Arbeitsuchenden nicht zuzumuten, ihre lediglich existenzsichernden Mittel in fremdverantwortlicher Weise einsetzen zu müssen.

Masken statt Bett, Brot und Seife?

Das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sei verletzt, wenn die sozial Schwächsten ihre Bedürfnisse an „Bett, Brot und Seife“ nicht decken dürften, um den Wohlhabenderen einen Dienst zu erweisen. Die einmalige Sachleistung von zehn Mund-Nasen-Bedeckungen deckte außerdem den Mehrbedarf von Arbeitsuchenden nur für unerhebliche Zeit.

Verfassungskonform oder verfassungswidrig?

Die Klärung, ob das Jobcenter monatlichen Mehrbedarf an pandemiebedingten Hygieneprodukten rückwirkend bezahlen muss, wird davon abhängen, ob das Bundesverfassungsgericht den § 70 und den § 73 des SGB II für verfassungskonform erklärt – oder für verfassungswidrig.

Das Sozialgericht Karlsruhe ging beide Szenarien durch. Wären beide Paragrafen und damit das Leisten von Einmalzahlungen (in geringer Höhe), mit dem Grundgesetz in Einklang, dann hätte die Klägerin keinen Anspruch darauf, dass das Jobcenter ihr weitere Leistungen unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfes wegen der Corona-Pandemie erstattet.

Wären die Einmalzahlungen plus zehn FFP-2 Masken aber laut §70 1 und §73 verfassungswirdrig, dann müsste das Jobcenter für den entsprechenden Zeitraum rückwirkend weitere Leistungen gewähren. Für jeden der elf Bewilligungsmonate (Februar 2021-Juni 2021, November 2021 bis November 2022) wären höhere Geldleistungen zu zahlen. (Az: S 12 AS 2208/22; S 12 AS 1358/23; S 12 AS 1359/23)