Das Gericht spricht einer alleinerziehenden Mutter und ihrer Tochter trotz unangemessener Kosten der Unterkunft eine Verlängerung des Übergangszeitraums um sechs Monate zu, da ein Umzug aus gesundheitlichen Gründen unzumutbar ist.
In einer wegweisenden Einzelfallentscheidung hat das Gericht bekannt gegeben, dass das Jobcenter die tatsächlichen Mietkosten übernehmen muss, wenn für eine Alleinerziehende und ihre Tochter ein Umzug aus gesundheitlichen Gründen unzumutbar ist.
Grundsätzlich werden unangemessene Unterkunftskosten vom Grundsicherungsträger nach § 22 Abs. 1 S. 7 SGB II sechs Monate lang gewährt. Ist dem Leistungsberechtigten aus gesundheitlichen Gründen ein Wohnungswechsel unzumutbar, so verlängert sich dieser Zeitraum angemessen. Das Jobcenter trägt die Beweislast dafür, dass ausreichend Wohnraum bis zur Angemessenheitsgrenze zur Verfügung steht.
Inhaltsverzeichnis
Verlängerung des Übergangszeitraums aus gesundheitlichen Gründen wegen Unzumutbarkeit des Umzugs
Die Sechs-Monatsfrist ist kein starrer Zeitraum; vielmehr sind Abweichungen nach oben und nach unten zulässig, wie schon dem Wortlaut der Norm zu entnehmen ist (vgl BSG, Urteil vom 16. April 2013 – B 14 AS 28/12 R – ).
Die gesundheitlichen Beschwerden der Bedarfsgemeinschaft, bestehend aus Mutter und Tochter rechtfertigen – ausnahmsweise die weitere Übernahme selbst unangemessener Mietkosten durch die Behörde nach § 22 Abs. 1 Satz 7 SGB II, weil den Klägerinnen ein Wohnungswechsel nicht zumutbar war.
Unzumutbarkeit eines Umzuges aus gesundheitlichen Gründen
Der vorliegende Fall rechtfertigt die Annahme eines seltenen Ausnahmefalles der Unzumutbarkeit eines Umzuges aus gesundheitlichen Gründen unter Berücksichtigung der hierzu in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Ansichten. An die Auslegung der Tatbestandsmerkmale der Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit sind strenge Anforderungen zu stellen ( BSG Rechtsprechung )
Was für die Bestimmung der abstrakten Angemessenheit der Unterkunftskosten gilt, gilt auch für die Zumutbarkeit eines Umzuges bei unangemessen hohen Unterkunftskosten
Denn Gewährleistet wird nicht der Verbleib in einer konkreten Unterkunft bzw dem unmittelbaren Wohnumfeld, vielmehr soll sozialer Entwurzelung oder einer Entwertung als elementar qualifizierter Kontakte und Lebensgewohnheiten vorgebeugt werden. Ein Umzug innerhalb des örtlichen Vergleichsraums – hier des Landes Berlin – ermöglicht grundsätzlich wegen der für die Vergleichsraumbildung vorausgesetzten Vernetzung, soziale Bindungen auch nach Umzügen aufrecht zu erhalten (vgl BSG 20. August 2009 – B 14 AS 41/08 R – ).
Ein Wechsel in Wohnquartiere, die in einer in angemessener Zeit überwindbaren Entfernung gelegen sind, ist regelmäßig nicht unzumutbar; Anfahrtswege mit öffentlichen Verkehrsmitteln, wie sie Erwerbstätigen oder Schülern zugemutet werden, sind hinzunehmen (vgl BSG, Urteil vom 19. Februar 2009 – B 4 AS 30/06 R – ).
Einschränkungen der Obliegenheit zur Senkung unangemessener Mietkosten im Sinne subjektiver Unzumutbarkeit bedürfen besonderer Begründung
Wenn sich ein Hilfebedürftiger zum Beispiel darauf beruft, sich zum Beispiel örtlich nicht verändern oder seine Wohnung nicht aufgeben zu können, müssen hierfür besondere Gründe vorliegen, die einen Ausnahmefall begründen können. Hierfür kommen insbesondere grundrechtsrelevante Sachverhalte oder Härtefälle in Betracht.
Dazu gehört etwa die Rücksichtnahme auf das soziale und schulische Umfeld minderjähriger schulpflichtiger Kinder, die möglichst nicht durch einen Wohnungswechsel zu einem Schulwechsel gezwungen werden sollten; ebenso kann auf Alleinerziehende Rücksicht genommen werden, die zur Betreuung ihrer Kinder auf eine besondere Infrastruktur angewiesen sind, die bei einem Wohnungswechsel in entferntere Ortsteile möglicherweise verloren ginge und im neuen Wohnumfeld nicht ersetzt werden könnte.
Ähnliches kann für kranke, behinderte oder pflegebedürftige Menschen bzw. für die sie betreuenden Familienangehörigen gelten, die zur Sicherstellung der Teilhabe behinderter Menschen ebenfalls auf eine besondere wohnungsnahe Infrastruktur angewiesen sind.
Bei beiden Klägern lag nach Überzeugung des Senats eine subjektive Unzumutbarkeit des Umzuges vor
Gestützt hat das Gericht seine Auffassung auf erstellte gerichtliche Sachverständigengutachten, einer ambulanten Untersuchung sowie einschlägiger Vorbefunde der behandelnden Ärzte.
Der Mutter war es zwar (nur) zumutbar, aufgrund der von ihm festgestellten Leiden (Depression; Ich-strukturelle Defizite) in eine andere Wohnung im näheren, vertrauten und „fußläufig“ erreichbaren Umfeld und im weiteren Umkreis im selben Stadtbezirk, nicht aber in einen anderen Bezirk B, umzuziehen.
Aber nach Einschätzung des behandelnden Kinder- und Jugendpsychiaters war der Tochter ein Umzug aufgrund einer emotionalen Instabilität gänzlich unzumutbar.
Fazit
Zur Überzeugung des Gerichts ist von einer subjektiven Unzumutbarkeit der Kostensenkung für beide Klägerinnen auszugehen und waren in dieser Zeit die tatsächlichen KdUH als Bedarf (jeweils kopfanteilig) zu berücksichtigen.
Anmerkung Sozialrechtsexperte von Tacheles e. V.
In jedem Einzelfall ist zu prüfen, ob sich aus Einzelfallumständen ein abweichender Leistungsanspruch ergibt.
1. Insbesondere grundrechtsrelevante Sachverhalte oder Härtefälle können es als unzumutbar erscheinen lassen, das nähere Umfeld oder gar die aktuell genutzte Wohnung zu verlassen. 1. Maßgebend sein können hier die Rücksichtnahme auf das soziale und schulische Umfeld von minderjährigen schulpflichtigen Kindern, die Rücksichtnahme auf eine besondere Infrastruktur bei Alleinerziehenden (vgl. dazu beispielsweise: BSG, Urteil vom 22.08.2012 – B 14 AS 13/12 R ; BSG, Urteil vom 19.02.2009 – B 4 AS 30/08 R – )
2. die Ermöglichung des Verbleibs eines betreuenden Familienangehörigen im Umfeld von Pflegebedürftigen (vgl. dazu beispielsweise: BSG, Urteil vom 15.06.2016 – B 4 AS 36/15 R -; BSG, Urteil vom 19.02.2009 – B 4 AS 30/08 R – )
3. behinderungsbedingte Zugangshemmnisse zum Wohnungsmarkt (vgl. dazu beispielsweise: BSG, Urteil vom 06.10.2022 – B 8 SO 7/21 R -),
4. der besondere Ausstattungsbedarf der Wohnung eines Allergikers (vgl. dazu beispielsweise: LSG Niedersachsen/Bremen, Beschluss vom 11.08.2005 – L 7 AS 164/05 ER – ), sonstige gesundheitliche Gründe, die eine besondere Infrastruktur oder ein spezielles soziales Umfeld erfordern (vgl. dazu beispielsweise: BSG, Urteil vom 15.06.2016 – B 4 AS 36/15 R – ).
Praxistipp zum SGB XII – Unzumutbarkeit eines Umzuges insbesondere aus gesundheitlichen Gründen
Bei älteren, kranken Menschen erkennt das Bundessozialgericht an, dass sie typisierend immobiler als der Durchschnitt der Bevölkerung sind, weil mit zunehmendem Alter die Anpassungsfähigkeit weiter abnimmt und die Anfälligkeit für Erkrankungen zunimmt und dass wegen des erfahrungsgemäß veränderten Aktionsradius die Wohnung und Wohnumgebung für das körperliche und psychische Wohl des alten Menschen immer mehr an Bedeutung gewinnen ( BSG, Urteil vom 23. März 2010 – B 8 SO 24/08 R –).
Leben alte Menschen in einer etwas zu teuren, vom Sozialamt bezahlten Wohnung, können sie nicht generell zum Umzug aufgefordert werden ist die Hauptaussage des Urteils des Bundessozialgerichts.