Trotz Auszug ohne Zusicherung muss das Jobcenter aus Verfassungsgründen die tatsächlichen Mietkosten übernehmen
Ein Hammer Urteil hat das Landessozialgericht Berlin – Brandenburg im Jahre 2022 erlassen.
Kann dem Leistungsberechtigten eine Verletzung der Obliegenheit nach § 22 Abs. 4 SGB II nicht vorgeworfen werden, gebietet die Verfassung selbst (vgl. BVerfG, 10.10.2017 – 1 BvR 617/14 -) die Übernahme der tatsächlichen Kosten, soweit eine Aufforderung zur Kostensenkung nicht erfolgt ist.
Das Jobcenter muss in diesem Einzelfall die tatsächlichen Kosten der Unterkunft gewähren und nicht die nur die angemessenen Mietkosten, denn auch wenn die Hilfesuchenden ohne Zusicherung des JobCenters umgezogen sind, hat sich das JobCenter hier zu viel Zeit mit seiner Entscheidung gelassen.
Wann ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine vorherige Zusicherung nicht erforderlich?
Eine vorherige Zusicherung ist nicht erforderlich, wenn eine fristgerecht mögliche Entscheidung vom Leistungsträger/ Jobcenter/ Sozialamt treuwidrig verzögert worden ist (BSG, Urteil vom 6. Mai 2010 – B 14 AS 7/ 09 R; Bayerisches LSG, Urteil vom 24. September 2014 – L 8 SO 95/14 zum SGB XII).
Rechtskräftiges Räumungsurteil machen den Umzug erforderlich
Erforderlich ist ein Umzug bereits dann, wenn notwendigerweise die bisherige Wohnung verlassen werden muss (BSG, Urt. v. 24. November 2011 – B 14 AS 107/10 R). Bei einem drohendem Verlust der Wohnung, etwa wegen eines rechtskräftigen Räumungsurteils wie im vorliegenden Fall, ist ein Umzug deshalb erforderlich.
Das Jobcenter hat sich in diesem Einzelfall mehr wie treuwidrig verhalten
Das Jobcenter hat sich in diesem Einzelfall mehr wie treuwidrig verhalten, denn dass die Bearbeitung nicht in innerhalb einer Woche zu einem Abschluss hätten führen können, hat das Jobcenter nicht vorgetragen. In sich widersprüchlich und damit treuwidrig hat das JobCenter zudem selbst nach Erhalt der Umzugsmitteilung noch Mietkosten in bisheriger Höhe bewilligt.
Die Übernahme der neuen Mietkosten richtete sich danach (nur) an § 22 Abs. 1 SGB II aus
Hiernach werden die Bedarfe in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen übernommen, soweit diese angemessen sind. Bei dem Begriff der Angemessenheit handelt es sich um einen ausfüllungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriff.
Aber Angemessen sind hier in – verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift – die tatsächlichen Bedarfe, obgleich eine Zusicherung nach § 22 Abs. 4 SGB II nicht vorlag.
Fazit
Rz. 44-45 des Urteils des LSG Berlin – Brandenburg – Zitat
Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz gewährleistet das gesamte Existenzminimum einer Person durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie.
Dazu gehört das physische Existenzminimum, zu dessen Sicherung die Bedarfe für Unterkunft und Heizung zu decken sind. Das Grundgesetz selbst gibt insoweit keinen exakt bezifferten Anspruch auf Sozialleistungen vor. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss aber durch ein Gesetz gesichert sein, das einen konkreten Leistungsanspruch vorsieht.
Der parlamentarische Gesetzgeber muss den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge konkretisieren (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 1 BvR 617/14 – Rdnr. 14).
Die Begrenzung der Übernahme von Kosten der Unterkunft und Heizung durch das Tatbestandsmerkmal der Angemessenheit in § 22 Abs. 1 SGB II lässt sich durch Auslegung noch hinreichend konkretisieren (BVerfG, a. a. O. Rdnr. 16), unter anderem, indem dem Ziel der Konkretisierungspflicht, dass Normadressaten sich auf Entscheidungen der Verwaltung einstellen können, verfahrensrechtlich dadurch Rechnung getragen worden ist, dass die Reduzierung der Leistung auf die angemessenen Kosten der Unterkunft eine vorherige Aufforderung voraussetzt, sich binnen einer angemessenen Frist eine neue Unterkunft zu suchen (BVerfG, a. a. O. Rdnr. 18).
Auch Leistungsempfänger wie die Kläger auf der Suche nach einer neuen Wohnung müssen sich als Normadressaten in diesem Sinne auf Entscheidungen der Verwaltung einstellen können.
Anmerkung vom Sozialrechtsexperten von Tacheles e. V.
1. Dies ist ein typisches Einzelfall – Urteil, aber mit riesiger Brisanz.
2. Nur wenn das JobCenter ein Kostensenkungsverfahren überhaupt einleitet, kann es in der Folge zur Absenkung auf die abstrakt angemessenen Kosten kommen. Für eine entsprechende Aufklärung trägt das Jobcenter die Beweislast.
3. Das Jobcenter kann sich in so einem Einzelfall nicht auf den Grundsatz berufen, wonach es im Falle einer Obliegenheitsverletzung keinen befristeten Bestandsschutz nach § 22 Abs. 1 Satz 7 SGB II gibt.
4. Ist die Einholung der vorherigen Zusicherung im konkreten Einzelfall aus wichtigen Gründen nicht zumutbar oder wird die Zusicherung in treuwidriger Weise vom JobCenter verzögert, so kann in diesem Ausnahmefall auf die vorherige Zusicherung verzichtet werden.