Zu viele Krankheitstage? Ab wann darf der Arbeitgeber eine Kündigung aussprechen?

Immer wieder wird Rechtsanwalt und Arbeitsrechtler Christan Lange aus Hannover diese Frage gestellt: Wie hoch ist die Zahl „erlaubter“ Krankheitstage pro Jahr?

“Das deutsche Arbeitsrecht kennt keine Obergrenze an Krankheitstagen, die Beschäftigte „ausschöpfen“ dürften”, sagt Lange. Entscheidend ist vielmehr allein, ob eine ärztlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit vorliegt – und welche Rechtsfolgen sich daraus für Entgelt, Sozialleistungen und das Arbeitsverhältnis ergeben.

Wer über Krankheitszeiten spricht, sollte deshalb präziser fragen: Welche arbeitsrechtlichen Konsequenzen knüpfen sich an kurze und lange Erkrankungen – und ab wann droht eine Kündigung?

Arbeitsunfähigkeit statt „Zulässigkeit“: der rechtliche Rahmen

Die Frage lautet nicht „wie viele Tage sind erlaubt“, sondern „liegt Arbeitsunfähigkeit vor?“. Für den Nachweis genügt – je nach betrieblicher Regel – die unmittelbare Anzeige gegenüber dem Arbeitgeber; ab dem vierten Kalendertag ist regelmäßig eine ärztliche Bescheinigung erforderlich, wobei der Arbeitgeber die Vorlage auch früher verlangen darf.

Eine numerische Jahreshöchstgrenze existiert nicht. Die maßgeblichen Regeln finden sich im Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG) und im Sozialgesetzbuch.

Sechs Wochen Lohnfortzahlung: was wirklich gilt

Zu Beginn einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit zahlt der Arbeitgeber grundsätzlich bis zu sechs Wochen das Gehalt weiter. Diese Frist gilt je „Erkrankungsfall“ und wird bei derselben Krankheit durch eine zwölfmonatige Betrachtung begrenzt.

Tritt eine neue, andere Erkrankung auf oder liegt zwischen zwei Phasen derselben Erkrankung ein hinreichender Abstand, kann ein neuer Anspruch entstehen. Für die Berechnung handelt es sich um 42 Kalendertage, Sonn- und Feiertage eingeschlossen; Detailfragen richten sich nach den §§ 187 ff. BGB.

Wenn die Kasse übernimmt: Krankengeld, Blockfrist und Aussteuerung

Endet die Lohnfortzahlung, springt für gesetzlich Versicherte das Krankengeld ein. Es wird wegen derselben Krankheit längstens 78 Wochen innerhalb eines Drei-Jahres-Zeitraums gezahlt; die ersten sechs Wochen der Lohnfortzahlung zählen dabei mit.

Diese „Blockfrist“ beginnt mit dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit. Nach Ausschöpfen der 78 Wochen („Aussteuerung“) stellen sich regelmäßig Fragen der weiteren Absicherung – etwa Wiedereingliederung, Arbeitslosengeld oder Erwerbsminderungsrente. Verlässliche Informationen liefern Krankenkassen und Verbraucherorganisationen.

BEM als Pflicht und Chance: betriebliches Eingliederungsmanagement

“Kumulieren sich Arbeitsunfähigkeitszeiten auf mehr als sechs Wochen innerhalb eines Jahres – ununterbrochen oder wiederholt –, muss der Arbeitgeber ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) anbieten”, sagt der Arbeitsrechtler.

Ziel ist, Möglichkeiten zu klären, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden, erneuter Ausfall vermieden und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Das ist keine bloße Formalie: Das BEM ist gesetzlich verankert und spielt in Kündigungsschutzprozessen eine gewichtige Rolle, weil es mildere Mittel zur Kündigung auslotet.

Kündigung wegen Krankheit: die dreistufige Prüfung der Gerichte

Eine Kündigung „wegen Krankheit“ ist nur unter engen Voraussetzungen wirksam. “Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts arbeitet mit einer dreistufigen Prüfung: Zunächst bedarf es einer negativen Gesundheitsprognose, also objektiver Tatsachen, die weitere Ausfälle im bisherigen Umfang erwarten lassen. Sodann müssen die prognostizierten Fehlzeiten zu erheblichen betrieblichen Beeinträchtigungen führen”, sagt der Anwalt.

Schließlich sei eine Interessenabwägung vorzunehmen, “die etwa Dauer der Betriebszugehörigkeit, Ursache und Vorhersehbarkeit der Ausfälle sowie mögliche Umsetzungen berücksichtigt. Ohne negative Prognose und ohne spürbare betriebliche Belastung scheitert eine krankheitsbedingte Kündigung regelmäßig”.

Langzeiterkrankung versus häufige Kurzerkrankungen: unterschiedliche Maßstäbe

Die Praxis unterscheidet zwei problematische Muster. Bei einer durchgehenden Langzeiterkrankung kann eine negative Prognose leichter anzunehmen sein, wenn auf absehbare Zeit nicht mit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu rechnen ist; zugleich kann der Arbeitgeber die Folgen besser planen, was in der Interessenabwägung ins Gewicht fällt.

Bei häufigen Kurzerkrankungen wiegen die kurzfristigen, schwer kompensierbaren Störungen des Betriebsablaufs oft schwerer. Für die Prognose blicken Gerichte nicht auf starre Grenzwerte, sondern auf die Ausfallgeschichte der letzten Jahre.

Orientierend ist dabei häufig ein Zeitraum von bis zu drei Jahren; häufiger wird diskutiert, ob jeweils mehr als sechs Wochen pro Jahr erreicht wurden. Das sind jedoch keine gesetzlichen Schwellen, sondern richterrechtliche Anhaltspunkte, die je Einzelfall zu füllen sind.

Keine Mathematik, sondern Einzelfall: was Prognose wirklich heißt

Die Frage, ob Fehlzeiten „zu viel“ sind, lässt sich nicht durch bloßes Zählen beantworten. Maßgeblich ist, ob die Ursachen der Ausfälle in Zukunft voraussichtlich fortwirken.

Liegt eine einheitliche, therapierbare Ursache vor, kann eine belegte Behandlung die negative Prognose durchbrechen. Handelt es sich dagegen um wechselnde, voneinander unabhängige Kurzzeiterkrankungen, kann gerade die Unvorhersehbarkeit eine ungünstige Prognose stützen. All das wird im Prozess konkret zu belegen sein; der Arbeitgeber trägt die Darlegungslast für Prognose und betriebliche Belastung, während Beschäftigte Gegenfakten – etwa Behandlungserfolge oder geänderte Arbeitsbedingungen – vortragen können.

Praktische Konsequenzen für Beschäftigte und Betriebe

Für Beschäftigte bedeutet das: Es geht nicht darum, eine vermeintliche „Grenze“ nicht zu überschreiten, sondern darum, medizinische Befunde sauber zu dokumentieren, dem Arbeitgeber Ausfallgründe korrekt anzuzeigen und – wo sinnvoll – das BEM konstruktiv zu nutzen.

Wer längere oder wiederholte Ausfälle hat, sollte frühzeitig ärztliche Maßnahmen und Reha-Wege prüfen; solche Schritte sind nicht nur gesundheitlich geboten, sie beeinflussen auch die rechtliche Prognose. Arbeitgeber wiederum sind gut beraten, BEM-Verfahren ernsthaft zu führen, Belastungen konkret zu dokumentieren und zumutbare Alternativen zur Kündigung zu prüfen. So lassen sich Eskalationen vermeiden – und Prozesse bestehen, wenn sie sich nicht vermeiden lassen.

Fazit: Die richtige Frage stellen

„Wie viele Krankheitstage sind erlaubt?“ ist die falsche Leitfrage. Richtig ist: Arbeitsunfähigkeit ist rechtlich geregelt, nicht kontingentiert. Finanziell gilt die klare Staffel von Lohnfortzahlung und Krankengeld; arbeitsrechtlich entscheidet eine dreistufige Prüfung über die Wirksamkeit einer Kündigung – mit BEM als wichtigem Korrektiv.