Volle Erwerbsminderungsrente und trotzdem muss man zum Jobcenter

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Viele Menschen gehen davon aus, dass mit der Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente sรคmtliche Berรผhrungspunkte mit dem Jobcenter enden. Doch diese Annahme greift zu kurz. Besonders bei der sogenannten Arbeitsmarktrente mischt das Jobcenter weiterhin krรคftig mit โ€“ selbst dann, wenn die Rentenversicherung eine volle Rente auszahlt.

Was bedeutet Erwerbsminderungsrente eigentlich?

Die Erwerbsminderungsrente richtet sich an Menschen, die aus gesundheitlichen Grรผnden nur eingeschrรคnkt arbeiten kรถnnen. Wie viel Geld schlieรŸlich auf dem Konto landet, hรคngt stark vom frรผheren Einkommen ab. Viele Betroffene erzielen nur geringe Rentenansprรผche und erhalten deshalb Betrรคge, die oft unter 500 Euro bleiben.

Reicht die Rente nicht zum Leben, wendet sich die Mehrheit der Betroffenen an das Sozialamt, das die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zahlt. Das geschieht immer dann, wenn Menschen dauerhaft weniger als drei Stunden tรคglich arbeiten kรถnnen โ€“ also vollstรคndig erwerbsgemindert sind und dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfรผgung stehen.

Die Ausnahme: Die Arbeitsmarktrente

Anders sieht es bei jenen aus, die eigentlich noch drei bis unter sechs Stunden tรคglich arbeiten kรถnnten, aber in der eigenen Region keine passende Teilzeitstelle finden. Wer teilweise erwerbsgemindert ist, gilt als erwerbsfรคhig. Beim Bezug von Sozialleistungen ist dann das Jobcenter zustรคndig und nicht das Sozialamt.

Genau dort setzt die Arbeitsmarktrente an. Sie unterstรผtzt Menschen, die zwar eingeschrรคnkt leistungsfรคhig sind, aber wegen fehlender geeigneter Stellen keine Chance haben, einen Teilzeitjob auszuรผben. In solchen Fรคllen zahlt die Rentenversicherung eine volle Rente โ€“ nicht wegen der gesundheitlichen Situation, sondern wegen der Lage auf dem Arbeitsmarkt.

Was sind die Bedingungen fรผr eine Arbeitsmarktrente?

Eine Arbeitsmarktrente erhรคlt nur, wer mehrere Voraussetzungen gleichzeitig erfรผllt. Die Rentenversicherung und die Arbeitsagentur prรผfen diese Kriterien sorgfรคltig:

1. Das Gutachten stellt eine teilweise Erwerbsminderung fest.
Die medizinischen Unterlagen mรผssen bestรคtigen, dass Betroffene tรคglich zwischen drei und unter sechs Stunden arbeiten kรถnnen.

2. Der Arbeitsmarkt bietet keine passenden Teilzeitstellen.
Die Arbeitsagentur untersucht das regionale Jobangebot. Finden die Fachkrรคfte keine Tรคtigkeiten, die mit dem gesundheitlichen Restleistungsvermรถgen vereinbar sind, gilt der Arbeitsmarkt als โ€žverschlossenโ€œ.

Als Faustregel gilt hier: Wer teilweise erwerbsgemindert und beim Jobcenter als arbeitssuchend im Bรผrgergeld-Bezug ist, kann nach sechs Monaten erfolgloser Jobvermittlung Anspruch auf eine Arbeitsmarktrente haben.

3. Betroffene stehen dem Arbeitsmarkt grundsรคtzlich zur Verfรผgung.
Auch wenn gesundheitliche Einschrรคnkungen bestehen: Wer eine Arbeitsmarktrente erhรคlt, muss theoretisch bereit sein, eine geeignete Tรคtigkeit anzunehmen โ€“ sobald sie verfรผgbar ist.

4. Die persรถnlichen Umstรคnde verhindern keine Vermittlung.
Wer zum Beispiel aus organisatorischen Grรผnden nicht arbeiten will oder kann, erfรผllt die Voraussetzungen nicht. Die Arbeitsmarktrente gilt nur bei einem objektiv fehlenden Arbeitsangebot, nicht bei fehlender Bereitschaft.

Erst wenn alle Punkte zusammentreffen, entscheidet die Rentenversicherung รผber eine Arbeitsmarktrente โ€“ und zahlt dann eine volle Erwerbsminderungsrente aus arbeitsmarktbedingten Grรผnden.

Wie wird ein verschlossener Arbeitsmarkt festgestellt?

Ein Arbeitsmarkt gilt als โ€žverschlossenโ€œ, wenn fรผr eine teilweise erwerbsgeminderte Person faktisch keine realistische Beschรคftigungsmรถglichkeit besteht. Das ist dann der Fall, wenn die Agentur fรผr Arbeit oder das Jobcenter keine geeigneten Tรคtigkeiten vermitteln kann, die den gesundheitlichen Einschrรคnkungen entsprechen.

Ebenso liegt ein verschlossener Arbeitsmarkt vor, wenn die gesundheitlichen Einschrรคnkungen so speziell oder schwerwiegend sind, dass praktisch keine passenden Teilzeitstellen verfรผgbar sind. Auch gescheiterte Arbeitsversuche oder das Fehlen zumutbarer Arbeitsangebote gelten als eindeutige Hinweise darauf, dass es keinen offenen Arbeitsmarkt in diesem Stundenumfang gibt.

Was bedeutet das fรผr die Praxis?

In der Praxis zeigt sich, dass der Teilzeitarbeitsmarkt fรผr teilweise Erwerbsgeminderte meist als verschlossen angesehen wird, sofern keine konkrete, tatsรคchlich verfรผgbare Stelle benannt werden kann.

Warum das Jobcenter trotz voller Rente aktiv bleibt

Viele Betroffene reagieren รผberrascht, wenn das Jobcenter trotz voller Erwerbsminderungsrente zu Terminen einlรคdt oder Bewerbungen verlangt. Doch die Behรถrde handelt dabei vรถllig rechtmรครŸig.

Das Jobcenter lรคdt Betroffene zu Beratungsgesprรคchen ein. Es verschickt Stellenangebote, erwartet Rรผckmeldungen und Bewerbungen und prรผft regelmรครŸig die gesundheitliche Leistungsfรคhigkeit.

Wer Geld vom Jobcenter bekommt ist zur MItwirkung verpflichtet

Der Hintergrund ist klar: Menschen mit Arbeitsmarktrente gehรถren weiterhin zum Arbeitsmarkt โ€“ zumindest auf dem Papier. Sobald der regionale Arbeitsmarkt passende Teilzeitstellen hergibt, versucht das Jobcenter, eine Vermittlung einzuleiten. Wer Leistungen vom Jobcenter erhรคlt, selbst wenn es nur wenige Euro sind, muss aktiv mitwirken.

In der Praxis erfahren aber viele Betroffene, die eine Arbeitsmarktrente und ergรคnzend Bรผrgergeld beziehen, dass das Jobcenter sie weitgehend in Ruhe lรคsst, was Arbeitsvermittlung angeht.ย Denn diese hatte sich bereits als erfolglos erwiesen.

Wenn die Arbeitsmarktrente zum Leben reicht

Das Kriterium fรผr den Anspruch auf eine Arbeitsmarktrente ist im Unterschied zur Erwerbsminderungsrente generell nicht medizinisch, sondern praktisch am Arbeitsmarkt ausgerichtet.

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Eine teilweise Erwerbsminderungsrente ist nur halb so hoch wie eine volle. Die Rentenversicherung erwartet nรคmlich, dass teilweise Erwerbsgeminderte einen Teil ihres Lebensunterhalts weiterhin durch Erwerbsbeschรคftigung finanzieren. Die Arbeitsmarktrente greift dann, wenn eine solche Beschรคftigung objektiv nicht mรถglich ist.

Wenn die jetzt als Arbeitsmarktrente voll ausgezahlte Rente so hoch ist, dass sie den Lebensunterhalt deckt, besteht erstens kein Anspruch mehr auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, und zweitens sind die Betroffenen folglich nicht mehr dem Jobcenter verpflichtet.

Befristung und Verlรคngerung

Die Arbeitsmarktrente ist meist befristet auf zwei bis drei Jahre. Sie wird verlรคngert, wenn die medizinische Situation gleich bleibt und der Arbeitsmarkt weiterhin verschlossen ist. Nach neun Jahren Befristung kann die Deutsche Rentenversicherung die Rente unbefristet bewilligen, ist aber nicht dazu verpflichtet.

Drei Beispiele aus der Praxis

1. Sabine (52) aus Kiel
Sabine leidet unter einer chronischen Wirbelsรคulenerkrankung. Sie kรถnnte vier Stunden tรคglich im Bรผro arbeiten, findet in ihrer Region aber keine passende Teilzeitstelle. Deshalb bewilligt die Rentenversicherung ihr eine Arbeitsmarktrente von 640 Euro. Das Jobcenter stockt auf und lรคdt sie regelmรครŸig zu Gesprรคchen ein, um mรถgliche Teilzeitoptionen zu prรผfen.

2. Marco (45) aus Lรผbeck
Marco arbeitete jahrelang als Maschinenfรผhrer. Nach einem Unfall darf er nur noch leichte Tรคtigkeiten ausรผben โ€“ maximal fรผnf Stunden tรคglich. Die Rentenversicherung bewilligt ihm eine Arbeitsmarktrente von 510 Euro. Das Jobcenter ergรคnzt die Leistung und schickt ihm regelmรครŸig Stellenangebote fรผr leichte Tรคtigkeiten, die gesundheitlich infrage kommen.

3. Elif (58) aus Flensburg
Elif kรคmpft mit Diabetes und starken Einschrรคnkungen an den Hรคnden. Sie kรถnnte vier Stunden tรคglich arbeiten, findet aber weder im Einzelhandel noch in der Produktion geeignete Stellen. Sie erhรคlt eine Arbeitsmarktrente von 720 Euro. Das Jobcenter stockt auf und sucht aktiv nach administrativen Tรคtigkeiten, die ihren Einschrรคnkungen entsprechen.

Wann wird eine Arbeitsmarktrente nicht gewรคhrt? โ€“ Die wichtigsten Ausschlussgrรผnde im รœberblick

Die Arbeitsmarktrente ist eine besondere Form der Erwerbsminderungsrente, die nur dann gezahlt wird, wenn eine teilweise Erwerbsminderung vorliegt und der Arbeitsmarkt als verschlossen gilt. Es gibt jedoch zahlreiche Situationen, in denen die Deutsche Rentenversicherung (DRV) eine Arbeitsmarktrente ablehnt. Die folgenden Beispiele zeigen klar, unter welchen Bedingungen kein Anspruch besteht.

Volle Erwerbsminderung liegt vor (โ€žunter drei Stunden tรคglichโ€œ)

Eine Arbeitsmarktrente setzt voraus, dass das Leistungsvermรถgen zwischen drei und sechs Stunden tรคglich liegt. Wer medizinisch weniger als drei Stunden arbeiten kann, erhรคlt stattdessen die volle medizinische Erwerbsminderungsrente โ€“ nicht die Arbeitsmarktrente.

Es gibt ein konkretes, zumutbares Arbeitsplatzangebot

Wird von der Agentur fรผr Arbeit, dem Jobcenter oder einem Arbeitgeber eine passende Teilzeitstelle angeboten, die gesundheitlich zumutbar ist, gilt der Arbeitsmarkt nicht als verschlossen.

Keine Meldung bei der Arbeitsagentur oder dem Jobcenter

Eine entscheidende Voraussetzung ist die Arbeitslosmeldung, damit der Arbeitsmarkt geprรผft werden kann. Wer nicht als arbeitssuchend gemeldet ist, erfรผllt die Anforderungen fรผr eine Arbeitsmarktrente nicht.

DRV erkennt keine teilweise Erwerbsminderung an

Wenn medizinische Gutachter der DRV feststellen, dass die betroffene Person mehr als sechs Stunden tรคglich arbeiten kann, liegt keine teilweise Erwerbsminderung vor โ€“ damit entfรคllt automatisch die Arbeitsmarktrente.

Der Arbeitsmarkt gilt nicht als verschlossen

Manchmal bewertet die DRV den regionalen oder beruflichen Arbeitsmarkt so, dass ausreichend geeignete Teilzeitstellen vorhanden sind. In diesem Fall ist der Arbeitsmarkt nicht verschlossen und die Rente wird nicht bewilligt.

Arbeitsversuche oder Reha zeigen hรถhere Leistungsfรคhigkeit

Wenn Arbeitsversuche, Belastungserprobungen oder eine Rehabilitation ergeben, dass mehr Arbeitsfรคhigkeit besteht als zuvor angenommen, kann die DRV die teilweise Erwerbsminderung verneinen.

RehabilitationsmaรŸnahmen gelten als erfolgversprechend

Der Grundsatz โ€žReha vor Renteโ€œ ist verpflichtend. Wenn die DRV davon ausgeht, dass medizinische oder berufliche Reha-MaรŸnahmen den Gesundheitszustand verbessern kรถnnten, wird die Arbeitsmarktrente abgelehnt.

Versicherungsrechtliche Voraussetzungen sind nicht erfรผllt

Fehlen die notwendigen Versicherungszeiten โ€“ in der Regel 5 Jahre Wartezeit und 3 Jahre Pflichtbeitrรคge in den letzten fรผnf Jahren โ€“ gibt es keinen Anspruch auf irgendeine Erwerbsminderungsrente, auch nicht auf die Arbeitsmarktrente.

FAQ: Die fรผnf wichtigsten Fragen zur Arbeitsmarktrente

1. Worin unterscheidet sich die volle von der teilweisen Erwerbsminderung?
Wer weniger als drei Stunden tรคglich arbeiten kann, gilt als voll erwerbsgemindert. Menschen, die zwischen drei und unter sechs Stunden arbeiten kรถnnen, gelten als teilweise erwerbsgemindert.

2. Was genau verstehe ich unter einer Arbeitsmarktrente?
Die Arbeitsmarktrente zahlt die Rentenversicherung, wenn jemand zwar teilweise erwerbsgemindert ist, aber keine passende Teilzeitstelle findet. Sie ersetzt dann eine volle Erwerbsminderungsrente.

3. Muss ich beim Jobcenter mitarbeiten, obwohl ich eine volle Rente bekomme?
Ja, wenn Sie ergรคnzende Leistungen vom Jobcenter beziehen. Bei der Arbeitsmarktrente bleiben Sie fรผr das Jobcenter grundsรคtzlich vermittelbar. Deshalb mรผssen Sie Termine wahrnehmen und auf Stellenangebote reagieren. Das gilt allerdings nur, wenn Sie weiterhin ergรคnzende Leistungen vom Jobcenter beziehen mรผssen.

4. Wo bekomme ich die Aufstockung: beim Sozialamt oder beim Jobcenter?
Beim Sozialamt, wenn Sie dauerhaft weniger als drei Stunden tรคglich arbeiten kรถnnen.
Beim Jobcenter, wenn Sie eine teilweise Erwerbsminderungsrente und / oder eine Arbeitsmarktrente beziehen.

5. Kann das Jobcenter meine Leistungen kรผrzen, wenn ich Termine nicht wahrnehme?
Ja. Wer Leistungen vom Jobcenter erhรคlt, muss an MaรŸnahmen und Terminen teilnehmen. Bei VerstรถรŸen darf das Jobcenter die Leistungen mindern.