Sozialhilfe: Schwere Verstöße durch das Sozialamt

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Die jüngsten Enthüllungen über das Kreissozialamt Neunkirchen haben für große Empörung gesorgt. Menschen, die auf Sozialhilfe nach dem 4. Kapitel des SGB XII angewiesen sind, sehen sich dort mit der Androhung einer Kürzung oder gar vollständigen Versagung ihrer Leistungen konfrontiert, wenn sie keine umfassende Ermächtigung zur Einsicht in ihre Bankkonten erteilen.

Konkret fordert das Amt eine Erklärung, mit der es sich selbst befugt, bis zu sechs Monate rückwirkend Informationen zu Kontostand, Kontobewegungen und weiteren sensiblen Daten direkt bei den Geldinstituten abzurufen.

Wer diese pauschale Vollmacht nicht unterschreibt, riskiert den Entzug dringend benötigter Leistungen.

Unter Berufung auf ein Schreiben des Amts, das seit 2017 in Gebrauch ist, wird offensichtlich eine Praxis betrieben, die gleich mehrere Vorschriften des Datenschutz- und Sozialrechts massiv verletzt.

Sozialhilfe-Leistungsberechtigte geraten unter Druck

Die Betroffenen werden nach eigenen Angaben vor allem durch die Drohung eines Leistungsstopps in die Enge getrieben. Nach Ablauf des Bewilligungszeitraums wird eine Weitergewährung nur dann in Aussicht gestellt, wenn die geforderte Ermächtigungserklärung unterschrieben wird.

Dabei ist die Herangehensweise des Amtes auf den ersten Blick besonders fragwürdig, weil Menschen in einer ohnehin prekären Lebenslage praktisch keine andere Wahl haben, als sich den Vorgaben der Behörde zu beugen.

Sie benötigen die finanzielle Unterstützung zur Sicherung ihres Lebensunterhalts und können nicht das Risiko eingehen, ohne Geld dazustehen. Durch diesen psychischen Druck entsteht eine Form der „Zwangssituation“, die den Betroffenen kaum Raum für Widerspruch oder Nachfragen lässt.

Warum ist das Vorgehen gegen Datenschutz und Sozialrecht gerichtet?

Das Bundesozialgericht hat bereits 2008 klargestellt, dass die Vorlage von Kontoauszügen in der Regel auf die letzten drei Monate beschränkt sein muss. Das Kreissozialamt Neunkirchen dehnt diesen Zeitraum jedoch eigenmächtig auf sechs Monate aus und verlangt zudem eine unbestimmte Vollmacht, die darüber hinausgeht, nur den Kontostand und Kontobewegungen einzusehen.

Durch die Formulierung „insbesondere“ wird eine Tür für weitaus umfassendere Datenabfragen geöffnet.

Damit wird einer anlasslosen Ausforschung Tür und Tor geöffnet, was einen Verstoß gegen den im Sozialrecht verankerten Grundsatz der Datensparsamkeit darstellt. Nur Daten, die zwingend erforderlich sind, dürfen überhaupt erhoben werden.

Zusätzlich verletzt das Vorgehen den Direkterhebungsgrundsatz, da zuerst die betroffene Person selbst um Auskunft gebeten werden muss.

Erst bei Weigerung ist es zulässig, unter Wahrung der gesetzlichen Vorgaben Informationen von dritter Seite einzuholen.

Wie werden die Rechte der Leistungsberechtigten ausgehöhlt?

Durch die direkte Abfrage bei der Bank wird den Betroffenen die Möglichkeit genommen, sensible Daten vorab zu schwärzen, wie es § 67 Abs. 12 SGB X ausdrücklich erlaubt.

Dieser Schutz betrifft etwa Informationen zu Gesundheit, Religion oder Sexualität, die auf Kontoauszügen erscheinen können. Indem das Amt den Umweg direkt über die Geldinstitute wählt, bleibt diesen Menschen kein Raum, besonders intime Details vor Einsicht zu bewahren.

Infolge dessen kommt es zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in die Privatsphäre, der mit dem geltenden Datenschutzrecht nicht vereinbar ist. Die Betroffenen fühlen sich nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch entwürdigt, weil die Behörde Misstrauen signalisiert und sie unter Generalverdacht stellt.

Das sagt die Rechtsprechung zur Weiterbewilligung von Leistungen

Der zweite Aspekt, der für Unverständnis sorgt, ist die Drohung mit der Einstellung der Leistung, wenn der Antrag auf Weiterbewilligung nicht vollständig oder rechtzeitig gestellt wird. Das Bundesozialgericht hat 2009 entschieden, dass es bei Leistungen nach dem 4. Kapitel SGB XII überhaupt keiner erneuten Antragstellung für den Weiterbezug bedarf.

Wer bereits im Leistungsbezug steht, muss demnach nicht jedes Mal ein neues Antragsverfahren durchlaufen. Vor diesem Hintergrund wirkt es geradezu willkürlich, wenn das Kreissozialamt Neunkirchen die Leistungsgewährung an eine umfassende Entbindungserklärung knüpft und den Betroffenen suggeriert, sie würden andernfalls schlicht leer ausgehen.

Besondere Brisanz des Falls

Vor allem die Kombination aus datenschutzrechtlichen Verstößen und dem Missachten höchstrichterlicher Rechtsprechung schafft eine Situation, in der Menschen in ohnehin schwierigen Lebenslagen noch weiter an den Rand gedrängt werden. Anstatt Hilfe und Unterstützung zu bieten, wendet die Behörde Maßnahmen an, die eine unverhältnismäßige Kontrolle ermöglichen und das Vertrauensverhältnis empfindlich stören.

Darüber hinaus entsteht der Eindruck, dass Datenschutz und Persönlichkeitsrechte systematisch ignoriert werden, was sich nicht mehr auf Einzelfälle beschränkt. Auch andere Sozialämter, wie der jüngste Vergleich mit dem Sozialamt des Main-Kinzig-Kreises zeigt, sind in ähnliche Praktiken verstrickt, was eine grundsätzliche Debatte über behördlichen Umgang mit Sozialdaten anstößt.

Welche Konsequenzen müssen nun folgen?

Die Forderung ist klar: Das fragwürdige Formular, das den behördlichen Blanko-Zugriff auf Bankkonten legalisieren soll, muss sofort aus dem Verkehr gezogen werden.

Menschen, die bereits eine solche Erklärung unterschrieben haben, dürfen nicht im Nachhinein mit dem Gefühl allein gelassen werden, dass ihre Daten in unzulässiger Weise abgefragt worden sind.

Es braucht eine transparente Aufklärung darüber, ob und in welchem Umfang tatsächlich Daten erhoben wurden und ob diese Informationen missbräuchlich genutzt wurden.

Damit verbunden ist die Erwartung, dass die betroffenen Personen eine offizielle Entschuldigung erhalten und umgehend schriftlich bestätigt wird, dass keine anlasslose Datenerhebung mehr stattfindet.

Wo bleibt das Sozialstaatsprinzip?

Die Praxis des Kreissozialamts Neunkirchen wirft grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis von Staat und Bürger auf. Wenn Einrichtungen der sozialen Sicherung derart massiv in die Privatsphäre eingreifen, entsteht ein Misstrauen, das sich gegen den eigentlichen Kern des Sozialstaats richtet. Leistungsberechtigte fühlen sich schnell wie Bittsteller, die ihre Hilfebedürftigkeit in einer Weise beweisen müssen, die nicht nur entwürdigend, sondern rechtlich unzulässig ist.

Strukturelles Problem in Teilen der Sozialverwaltung

Die offenbar in Neunkirchen und anderen Orten angewandten Methoden bestätigen den Verdacht, dass es sich um ein strukturelles Problem in Teilen der Sozialverwaltung handeln könnte.

Der Verein Tacheles e.V., der den Fall öffentlich machte, spricht davon, dass diese Form der Ausforschung bereits in verschiedenen Landkreisen zur Praxis gehört. Entsprechende Fälle müssen nicht nur individuell beanstandet, sondern auf höchster politischer und organisatorischer Ebene untersucht werden.

Sozialverbände, Wohlfahrtsorganisationen und Vertreter der Sozialen Arbeit sind aufgerufen, behördliche Willkür offenzulegen und systematisch dagegen vorzugehen. Nur auf diese Weise kann verhindert werden, dass Menschen in einer Lage, in der sie Solidarität und Schutz benötigen, zusätzlichen Schikanen ausgesetzt werden.

Die vehemente Kritik, die selbst von Fachleuten aus Sozial- und Datenschutzrecht geäußert wird, lässt sich vor allem mit dem Eindruck begründen, hier würden bewusst Grundrechte mit Füßen getreten.

Betroffene müssen sich nicht nur einer Schikane beugen, um ihre Existenz zu sichern, sondern erleben eine erhebliche Einschränkung ihrer informationellen Selbstbestimmung. Behörden, die sich im Rahmen der Grundsicherung eigentlich als Unterstützer verstehen müssten, kommen durch solche Maßnahmen in Verruf, anstatt das rechtsstaatliche Prinzip zu wahren. Die Empörung richtet sich gegen einen Kontrollwahn, der gerade gegenüber Menschen, die in Notlagen geraten, besonders unverhältnismäßig erscheint.

Fazit: Ein „Schnüffel-Vollmacht“-Skandal, der zum Umdenken zwingt

Die Vorgänge im Kreissozialamt Neunkirchen stehen exemplarisch für eine Entwicklung, die viel zu lange im Verborgenen blieb. Eine Behörde, die sich über die Grenzen der eigenen Kompetenzen hinwegsetzt, verletzt nicht nur bestehendes Recht, sondern auch das Vertrauen in den Sozialstaat.

Die Kritik daran ist laut und berechtigt, denn ein solches Vorgehen hat keinerlei Rechtfertigung und muss umgehend eingestellt werden. Sozialbehörden sollen die Schwächsten der Gesellschaft schützen, statt sie unter Generalverdacht zu stellen.

Wer sich die Tragweite dieser Praxis bewusst macht, erkennt schnell, dass hier nicht nur rechtliche Vorgaben mit Füßen getreten werden, sondern vor allem die Würde derjenigen, die auf die Leistungen angewiesen sind. Nur eine entschlossene und umfassende Aufarbeitung kann verhindern, dass ein solcher Skandal weiter um sich greift und zum „neuen Normalzustand“ in der Sozialverwaltung wird.

Über diesen Fall berichtete der Sozialverein Tacheles e.V.