Sozialhilfe Regelsätze verfassungskoform? Revision offen

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Das Bayerische Landessozialgericht (8. Senat) hat mit Urteil (Az. L 8 SO 256/23) die Berufung einer 72-jährigen Klägerin zurückgewiesen, die höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter für den Zeitraum Februar 2022 bis August 2023 begehrte. Zugleich erklärte das Gericht, es gebe „keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken“ gegen die Höhe der bundesweiten Regelsätze der Jahre 2022 und 2023. Die Revision zum Bundessozialgericht ist zugelassen.

Antrag auf höhere Grundsicherung wegen Gesundheits- und Ernährungskosten

Die alleinlebende Klägerin bezieht eine geringe Altersrente von knapp 500 Euro und ergänzende Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Sie machte geltend, dass ihre Divertikulose eine kostenaufwändige ballaststoffreiche Ernährung sowie nicht-verschreibungspflichtige Medikamente erfordere.

Weil diese Aufwendungen den Regelbedarf überstiegen, beantragte sie eine Regelsatzerhöhung nach § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB XII sowie – parallel – einen krankheitsbedingten Mehrbedarf nach § 30 Abs. 5 SGB XII. Verwaltung und Sozialgericht München lehnten dies ab; dagegen richtete sich ihre Berufung.

Regelsätze verfassungsgemäß

Regelsätze verfassungsgemäß: Das Gericht sieht keinen Anlass, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Die pauschalen Regelsätze von 449 Euro (2022) bzw. 502 Euro (2023) seien angesichts Inflation, Einmalzahlungen und der neuen Fortschreibungssystematik nicht evident unzureichend.

Der § 27a Abs. 4 SGB XII bleibt Ausnahmevorschrift: Die Norm sei „kein Einfallstor für jegliche wünschenswerte, aber im SGB XII nicht geregelte Bedarfe“. Sonderbedarfe müssten unausweichlich, dauerhaft und erheblich sein sowie nicht anderweitig gedeckt werden können.

Unterschied zwischen „unausweichlich“ und bloßer Wunschbedarfsdeckung: Ein Mehrbedarf ist nur dann zuzubilligen, wenn er sich auch durch zumutbare Eigenvorkehrungen nicht vermeiden lässt.

Medikations- und Zuzahlungskosten abgedeckt: Bei gesetzlich Versicherten tragen entweder das Leistungssystem der Krankenkassen oder die Regelleistung selbst die Kosten. Nicht-verschreibungspflichtige Medikamente begründen grundsätzlich keinen zusätzlichen unabweisbaren Bedarf.

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Begründung

Der Senat wies darauf hin, dass die Klägerin ihre Gesundheitskosten teilweise schon durch Stiftungsleistungen von 300 Euro gedeckt habe. Vor allem aber fehle es an der gesetzlichen Voraussetzung der Unausweichlichkeit: Die ärztlich empfohlene ballaststoffreiche Kost sei nicht teurer als eine normale Vollkost, und die empfohlenen Flohsamenschalen seien verordnungsfähig zulasten der Krankenkasse. Damit bestehe kein unzureichend gedeckter Dauerbedarf oberhalb des durchschnittlichen Regelbedarfs.

Bei der Prüfung der Regelsätze stützte sich das Gericht auf neuere Entscheidungen anderer Landessozialgerichte und auf das Bundesverfassungsgericht.

Der Gesetzgeber habe 2022 zeitnah auf Preissteigerungen reagiert (u. a. 200-Euro-Einmalzahlung, Energiepreisbremsen) und zum 1. Januar 2023 einen inflationsangepassten zweistufigen Fortschreibungsmechanismus eingeführt.

Bedeutung für die Praxis der Sozialhilfeträger

Mit seinen Leitsätzen bestätigt das LSG die Linie der Rechtsprechung, wonach Sonder- oder Mehrbedarfe eng begrenzt bleiben. Insbesondere:

Kein Automatismus bei „Gesundheitskosten“: Rezeptfreie Präparate und Ernährungsbesonderheiten gelten als typische, im Regelsatz antizipierte Alltagsausgaben.

Strikte Prüfung der Abgrenzbarkeit: Die Entscheidung betont, dass Ansprüche nach § 30 Abs. 5 SGB XII (krankheitsbedingter Mehrbedarf) als eigenständiger Streitgegenstand zu werten sind. Sozialhilfeträger können dies nutzen, um Verfahren klar zu strukturieren.

Verfassungsrüge gegen Regelsatz nur bei Evidenzchance: Wer pauschal die Höhe der Regelsätze angreift, muss substantiiert darlegen, dass existenzsichernde Mindeststandards unterschritten werden – ein bloßer Hinweis auf Preissteigerungen reicht nicht.

Seigender Lebenshaltungskosten

Das Urteil kommt in einer Phase anhaltender Diskussionen über die Angemessenheit sozialer Leistungen.

Während Betroffenen-verbände spätestens seit der Energie- und Inflationskrise 2022/23 eine spürbare Unterdeckung sehen, hält das Gericht den gesetzgeberischen Ausgleich – einschließlich temporärer Hilfen – für ausreichend. Dabei bleibt offen, ob das Bundessozialgericht in der Revision neue Maßstäbe entwickelt, etwa zur Frage, wie schnell der Gesetzgeber auf Preis-Schocks reagieren muss.

Revision zugelassen – mögliche Folgen einer BSG-Entscheidung

Weil der Senat die Rechtssache als grundsätzlichen Klärungsbedarf einschätzt, hat er die Revision eröffnet. Damit könnte das Bundessozialgericht erstmals seit Einführung des Bürgergeld-Fortschreibungsmechanismus überprüfen, ob die neuen Regelsätze das Existenzminimum verlässlich absichern. Ein anderslautendes höchstrichterliches Urteil hätte nicht nur finanzielle Auswirkungen für hunderttausende Leistungsbeziehende, sondern würde auch den gesetzgeberischen Spielraum bei der Bemessung der Regelsätze neu justieren.