Viele Anträge auf einen Grad der Behinderung (GdB) bleiben deutlich hinter dem zurück, was Betroffene aufgrund ihrer tatsächlichen Einschränkungen beanspruchen könnten. Ein häufiger Grund: Psychische Folgen einer körperlichen Erkrankung – etwa chronische Schmerzen, Depressionen, Angststörungen oder massive Schlafprobleme – werden im Antrag gar nicht erwähnt oder nur am Rande gestreift.
Damit gehen genau die Beschwerden unter, die den Gesamt-GdB oft erst in den Bereich von 50 und mehr heben können und damit den Status als schwerbehinderter Mensch eröffnen.
Inhaltsverzeichnis
GdB-Bewertung: Körper und Psyche werden gemeinsam betrachtet
Rechtlich gilt ein klarer Grundsatz: Maßstab für den GdB ist nie eine einzelne Diagnose, sondern die gesamte Beeinträchtigung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Grundlage sind § 152 SGB IX und die Versorgungsmedizin-Verordnung mit ihren „Versorgungsmedizinischen Grundsätzen“, in denen für zahlreiche Krankheitsbilder Orientierungswerte festgelegt sind.
Körperliche und psychische Erkrankungen sind dort ausdrücklich gleichberechtigt aufgeführt; psychische Störungen finden sich vor allem im Abschnitt „Nervensystem und Psyche“ mit Bandbreiten für leichte, mittelgradige und schwere Ausprägungen.
Wichtig ist außerdem, dass der Gesamt-GdB nicht durch bloßes Zusammenrechnen von Einzelwerten entsteht. Behörden und Gerichte bilden aus den einzelnen Beeinträchtigungen eine Gesamtschau:
Der höchste Einzel-GdB bildet den Ausgangspunkt, weitere Leiden können den Wert anheben, wenn sie die Teilhabe zusätzlich deutlich einschränken. Eine gewisse Verschlechterung, die im Wesentlichen aus demselben Krankheitskomplex resultiert, wird dagegen nicht doppelt gezählt.
Wenn die Krankheit „im Kopf weitergeht“
Körperliche Erkrankungen lösen häufig eine Kettenreaktion aus, die weit über das betroffene Organ hinausgeht. Wer ständig Schmerzen hat, nachts kaum schläft, den Arbeitsplatz verliert oder sein gewohntes Leben aufgeben muss, gerät seelisch unter Dauerstress.
Typische Folgen sind depressive Episoden, Anpassungsstörungen, Angst- und Panikstörungen, ausgeprägte Erschöpfung oder eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren.
Für diese psychischen Folgeerkrankungen sieht die Versorgungsmedizin-Verordnung teilweise eigenständige GdB-Spannen vor. Leichte depressive Störungen oder Anpassungsstörungen bewegen sich häufig im Bereich bis etwa 20 GdB, mittelgradige Depressionen mit deutlichen Einschränkungen im Alltag eher im Bereich von 30 bis 40, schwere, dauerhafte Verläufe mit ausgeprägter sozialer Rückzugs- und Leistungsunfähigkeit können deutlich höhere Werte rechtfertigen.
Ähnliches gilt für chronische Schmerzstörungen, bei denen Schmerzen, Stimmung, Schlaf und Alltagsbewältigung kaum noch voneinander zu trennen sind.
Damit wird deutlich: Die psychische Seite einer Erkrankung ist kein Nebenschauplatz, sondern kann den Ausschlag geben, ob der Gesamt-GdB bei 30 stehen bleibt, auf 40 steigt oder die Schwelle von 50 erreicht und damit zur Schwerbehinderung führt.
Typische Versäumnisse: Warum Nebendiagnosen im Antrag untergehen
In der Praxis wiederholen sich immer dieselben Fehler bei der Antragstellung. Viele Betroffene übertragen im Formular schlicht die Diagnosebegriffe aus Arztbriefen: „LWS-Syndrom“, „Arthrose Knie“, „Z. n. Herzinfarkt“.
Gerade psychische Folgen tauchen dabei – wenn überhaupt – als schmales Stichwort auf, ohne jede Beschreibung der tatsächlichen Auswirkungen.
Hinzu kommt, dass Scham und Unsicherheit eine große Rolle spielen. Depressionen, Angstzustände, Panikattacken oder Schlaflosigkeit werden häufig bewusst verharmlost oder ganz verschwiegen, weil man „nicht als psychisch krank gelten“ möchte.
Andere empfinden Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit, sozialen Rückzug oder morgendliche Antriebslosigkeit als „charakterliche Schwäche“ und nicht als Teil einer behandlungsbedürftigen Erkrankung.
Das Problem: Die Versorgungsverwaltung bewertet nicht die Diagnosebezeichnungen, sondern die konkreten Funktionseinbußen. Wer nur schreibt, er habe „Depression“, aber nicht darlegt, dass er es kaum aus dem Haus schafft, Termine meidet, sich nicht mehr um Papierkram kümmern kann und selbst Alltagsaufgaben liegen bleiben, liefert der Behörde kaum Ansatzpunkte für einen höheren GdB.
Beratungsstellen berichten übereinstimmend, dass insbesondere psychische und schmerzbezogene Nebendiagnosen in den Akten fehlen oder nur sehr vage umrissen sind.
Strategische – aber ehrliche – Antragsformulierung
„Strategisch“ bedeutet im GdB-Verfahren nicht, etwas auszuschmücken oder gar zu erfinden, sondern die tatsächlichen Beeinträchtigungen vollständig, strukturiert und verständlich darzustellen.
Statt nur Diagnosen aufzuschreiben, sollten Betroffene beschreiben, wie sich die körperliche und psychische Situation konkret im Alltag auswirkt. Bei depressiven Symptomen kann das heißen, dass morgens Stunden vergehen, bis man in Gang kommt, dass Kontakte abgebrochen werden, dass Hobbys aufgegeben wurden und selbst einfache Aufgaben wie Einkaufen oder Behördengänge nur noch mit Hilfe möglich sind.
Bei chronischen Schmerzen ist entscheidend, ob man noch längere Strecken zu Fuß gehen kann, ob man sitzen oder stehen kann, wie lange Konzentration möglich ist und wie oft es zu Schmerzspitzen kommt, die jede Aktivität unmöglich machen.
Hilfreich ist, sich den Tag von morgens bis abends vor Augen zu führen und zu beschreiben, an welchen Stellen die Erkrankungen bremsen: Aufstehen, Körperpflege, Haushaltsführung, Wege außer Haus, soziale Kontakte, Freizeit, Schlaf.
Gerade Schlafstörungen werden oft nur mit dem Wort „Schlafprobleme“ erwähnt, dabei macht es einen erheblichen Unterschied, ob jemand gelegentlich schlecht schläft oder jede Nacht nur wenige Stunden in kurzen Fragmenten durchhält und tagsüber kaum leistungsfähig ist.
Wichtig ist außerdem, im Antrag alle behandelnden Ärztinnen und Ärzte aufzuführen – nicht nur Orthopäden oder Internisten, sondern auch Psychiater, Psychotherapeutinnen, Schmerzambulanzen und Reha-Kliniken. Nur dann kann die Behörde gezielt Befundberichte anfordern und psychische Nebendiagnosen überhaupt berücksichtigen.
Ärztliche Atteste als Schlüssel: Was im Bericht stehen sollte
Die Versorgungsverwaltung entscheidet im Wesentlichen auf Basis der medizinischen Unterlagen. Wer möchte, dass psychische Folgen der Erkrankung angemessen gewürdigt werden, benötigt aussagekräftige Befundberichte. Ein bloßer Satz wie „Patient ist depressiv verstimmt“ reicht in der Regel nicht.
Im Idealfall enthalten Atteste eine konkrete Diagnose nach ICD-10 – etwa eine mittelgradige depressive Episode, eine rezidivierende schwere Depression, eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren – sowie Angaben dazu, seit wann die Störung besteht, welche Therapien durchgeführt werden und wie stabil oder instabil der Verlauf ist.
Ebenso wichtig ist die Beschreibung der Alltagseinschränkungen: Umgang mit Stress, Belastbarkeit, Fähigkeit zur Selbstorganisation, soziale Kontakte, Konfliktfähigkeit, eventuelle Suizidgedanken.
Bei chronischen Schmerzen sollte der Arztbericht deutlich machen, wie häufig Schmerzen auftreten, in welcher Intensität, ob sie medikamentös beherrschbar sind und welche Begleiterscheinungen (Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, Reizbarkeit, Erschöpfung) bestehen.
Solche strukturierten Atteste signalisieren, dass es sich nicht nur um „ein bisschen Wehwehchen“ handelt, sondern um ein chronifiziertes Leiden mit eigenständiger psychischer Dimension.
Fiktive Fallbeispiele: Wie Nebendiagnosen den Unterschied machen können
Ein 54-jähriger Büroangestellter mit langjährigem Lendenwirbelsäulensyndrom erhält zunächst einen GdB von 30. Im Antrag hatte er vor allem auf seine Bewegungseinschränkungen und Rückenbeschwerden hingewiesen. Erst im Rahmen eines Widerspruchs wird deutlich, dass er seit Jahren in psychiatrischer Behandlung ist, sich kaum noch aus dem Haus traut, Freundschaften abgebrochen hat und häufig tagelang im Bett liegt.
Der Facharzt bescheinigt eine rezidivierende mittelgradige Depression mit deutlichen Teilhabebeeinträchtigungen. In der Gesamtschau erkennt die Behörde nun einen höheren Gesamt-GdB an, der über die Schwelle zur Schwerbehinderung führt.
Eine 49-jährige Frau nach Brustkrebserkrankung erhält zunächst einen GdB von 40, maßgeblich wegen der onkologischen Diagnose. Im Antrag war nur von „Müdigkeit“ die Rede. Erst in der Nachprüfung wird klar, dass sie unter ausgeprägter Fatigue, Schlafstörungen und einer depressiven Symptomatik leidet, kaum noch soziale Kontakte pflegt und ihren Haushalt nur mit familiärer Unterstützung bewältigen kann.
Die psychischen und erschöpfungsbedingten Beeinträchtigungen werden jetzt als eigenständige Teilhabeeinschränkung bewertet und führen zu einem deutlich höheren Gesamt-GdB.
Solche Konstellationen zeigen, dass es nicht darum geht, den GdB künstlich „hochzuschrauben“, sondern darum, die Lebensrealität vollständig abzubilden.
Widerspruch, wenn Nebendiagnosen fehlen
Wer den Bescheid erhält, sollte prüfen, ob psychische Folgeerkrankungen und Schlafstörungen überhaupt erwähnt und gewürdigt wurden. Fehlen sie völlig oder werden sie erkennbar klein geredet, kann ein Widerspruch sinnvoll sein.
Die Frist beträgt in der Regel einen Monat nach Zugang des Bescheids. In vielen Bundesländern werden Widersprüche in GdB-Verfahren nicht selten teilweise oder vollständig erfolgreich beschieden, wenn neue oder genauere medizinische Unterlagen nachgereicht werden.
Für Betroffene kann es hilfreich sein, sich dabei von Sozialverbänden, Beratungsstellen oder spezialisierten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten unterstützen zu lassen. Sie können einschätzen, ob die Bewertung im Rahmen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze plausibel ist oder ob ein höherer Gesamt-GdB naheliegt.
FAQ: Häufige Fragen zu psychischen Nebendiagnosen und GdB
Muss ich psychische Beschwerden überhaupt angeben – auch wenn mir das unangenehm ist?
Ja. Der GdB soll die gesamte gesundheitliche Situation abbilden. Wenn Depressionen, Angstzustände, Panikattacken oder Schlafstörungen Ihren Alltag spürbar einschränken, müssen sie im Antrag genannt und beschrieben werden. Wer diese Seite aus Scham verschweigt, nimmt in Kauf, dass der GdB deutlich zu niedrig ausfällt und wichtige Nachteilsausgleiche verloren gehen.
Reicht es, wenn mein Hausarzt die psychische Belastung erwähnt?
Hausärzte können wichtige Ansprechpartner sein, gerade wenn sie Sie schon lange kennen. Für eine überzeugende Bewertung psychischer Erkrankungen ist es jedoch oft hilfreich, wenn es zusätzlich Berichte von Fachärztinnen und Fachärzten für Psychiatrie, Psychotherapeutinnen oder Schmerzambulanzen gibt. Je genauer dort Diagnose, Verlauf und Alltagseinschränkungen beschrieben sind, desto besser kann die Behörde die Folgen einschätzen.
Erhöht jede psychische Diagnose automatisch den GdB?
Allein der Begriff einer Diagnose führt nicht automatisch zu einem höheren GdB. Entscheidend ist, ob die psychische Störung im konkreten Fall zu einer relevanten Beeinträchtigung der Teilhabe führt. Leichte, nur vorübergehende Verstimmungen ohne nennenswerte Auswirkungen werden anders bewertet als eine anhaltende Depression, die dazu führt, dass jemand kaum noch das Haus verlässt oder nicht mehr organisiert bekommt, was früher selbstverständlich war.
Kann das Amt auch ohne meine Angaben psychische Störungen berücksichtigen?
Theoretisch können psychische Auffälligkeiten aus Reha-Berichten, Krankenhausunterlagen oder Gutachten hervorgehen und so in die Bewertung einfließen. In der Praxis ist die Behörde aber darauf angewiesen, dass sie von behandelnden Stellen erfährt und gezielt Befundberichte anfordern kann. Wer seine psychischen Probleme verschweigt oder behandelnde Fachärzte nicht angibt, erschwert eine realistische Einschätzung erheblich.
Wann lohnt sich ein Widerspruch, wenn Nebendiagnosen übersehen wurden?
Ein Widerspruch kann sich lohnen, wenn im Bescheid zwar körperliche Leiden bewertet werden, psychische Folgen aber gar nicht vorkommen oder nur als Randnotiz auftauchen, obwohl sie den Alltag stark prägen. Voraussetzung ist, dass Sie im Widerspruch neue, aussagekräftige Unterlagen nachreichen können, etwa Facharztberichte oder strukturierte Stellungnahmen Ihrer Therapeutin. Bleiben Zweifel, kann eine unabhängige Beratung helfen, die Erfolgsaussichten realistisch einzuschätzen.




