“Wie lรคsst sich ein hรถherer Grad der Behinderung erreichen?” Die Frage taucht meist auf, wenn der Feststellungsbescheid nicht das erhoffte Ergebnis liefert oder sich der Gesundheitszustand spรผrbar verschlechtert hat. Hinter dem nรผchternen Verwaltungsvorgang steht ein kompliziertes Zusammenspiel aus rechtlichen Vorgaben, medizinischen Fakten und strategischem Vorgehen.
Inhaltsverzeichnis
VersorgungsmedizinโVerordnung entscheidet รผber jedes Prozent
Alle Bundeslรคnder wenden seit 2009 die VersorgungsmedizinโVerordnungโฏ(VersMedV) an. Die AnlageโฏโVersorgungsยญmedizinische Grundsรคtzeโ legt Bandbreiten fest, innerhalb derer Gutachter einzelne Funktionsbeeintrรคchtigungen bewerten.
Zumโฏ1.โฏJanuarโฏ2024 wurde die Anlage รผberarbeitet; unter anderem prรคzisiert sie die Bildung des GesamtโGdB und die Zusammensetzung des Sachverstรคndigenยญbeirats. Die รnderungen sollen Begutachtungen bundesweit angleichen und die Transparenz erhรถhen.
Welche Unterlagen erhรถhen die Chance auf einen hรถheren Wert?
Ein รคrztlicher Befund muss heute mehr leisten als Diagnosen aufzuzรคhlen. Entscheidend sind detaillierte Aussagen dazu, wie stark einzelne Kรถrperโ oder Sinnesfunktionen, die Psyche oder die soziale Teilhabe eingeschrรคnkt sind, seit wann diese Einschrรคnkungen bestehen und wie stabil oder fortschreitend sie sind.
Konkrete Beispiele aus dem Alltag โ etwa die Unfรคhigkeit, mehr als 200โฏMeter ohne Pause zu gehen oder das regelยญmรครige Scheitern an Treppenstufen โ geben Gutachtern eine Orientierung. Fachรคrztliche Zusatzberichte, RehaโEntlassungsยญbriefe und Therapieยญprotokolle komplettieren das Bild.
Wie wirken sich mehrere Leiden auf den GesamtโGdB aus?
Ein hรถherer Gesamtwert entsteht nur, wenn sich Funktionsยญstรถrungen gegenseitig verstรคrken. Wer wegen eines schweren Sehยญdefizits bereits einen hohen EinzelโGdB erhรคlt, kann durch eine gleichzeitige starke Hรถrยญminderung weiter steigen, weil beide Sinne zusammenwirken.
Demgegenรผber sind orthopรคdische Schmerzen und etwa leichter Tinnitus hรคufig unabhรคngig voneinander; hier bleibt es oft beim hรถchsten Einzelwert. Die Gutachter mรผssen eine Gesamtschau bilden, nicht addieren.
Welche Fristen gelten fรผr einen Widerspruch โ und wie vorbereitet sollte er sein?
Der Gesetzgeber rรคumt nur einen Monat Zeit ein, um gegen einen Feststellungsยญbescheid vorzugehen. Versรคumt man diese Frist, wird der Bescheid bestandskrรคftig. Rechtsanwรคltinnen und Sozialverbรคnde raten, noch innerhalb der Frist fehlende Unterlagen nachzufordern, detaillierte Gegengutachten beizulegen und in der Begrรผndung lรผckenlos zu erlรคutern, warum die VersMedVโBandbreiten falsch angewandt wurden.
Fachanwรคlte verweisen auf โerhebliche Erfolgschancenโ, wenn das medizinische Material klar widerspricht; in der Praxis werden zahlreiche GdBโWerte nach Widerspruch oder vor Gericht nach oben korrigiert.
Wann lohnt sich ein Neufeststellungsโ oderโฏโVerschlimmerungsโ-Antrag?
Verschlechtert sich eine Erkrankung dauerhaft oder kommt eine neue hinzu, kann jederzeit ein Neufeststellungsantrag gestellt werden. Fachverbรคnde warnen aber vor einem Antrag โauf Verdachtโ, weil die Behรถrde dann den gesamten Gesundheitsยญzustand erneut prรผft und den bisherigen GdB auch herabsetzen kรถnnte.
Sinnvoll ist der Schritt erst, wenn belastbare รคrztliche Befunde eine dauerhafte zusรคtzliche Funktionsstรถrung nachweisen โ zum Beispiel nach einer Operation, bei fortschreitender Polyneuropathie oder nach LongโCovidโFolgen.
Beispielยญurteile und Fallstatistiken
Entscheidungen der Sozialgerichte zeigen, dass selbst erhebliche Aufstufungen mรถglich sind: In einem LongโCovidโFall hob das Gericht den GdB vonโฏ20 aufโฏ60 an, weil Fatigue und Atemnot den Alltag stรคrker beeintrรคchtigten als das Versorgungsamt angenommen hatte. Solche Urteile kรถnnen รคhnlich Betroffenen als Argumentationsยญhilfe dienen, ersetzen aber kein individuelles Gutachten.
Was raten Verbรคnde und Anwรคlte, um das Risiko einer Herabstufung zu vermeiden?
Gutachterinnen empfehlen, zunรคchst alle neuen Befunde zu sammeln und zusammen mit behandelnden รrztinnen durchzugehen. Zeigt sich eindeutig, dass Bandbreiten der VersMedV รผberschritten sind oder sich Funktionsยญstรถrungen gegenseitig verstรคrken, stehen die Chancen auf eine Hรถherstufung gut. Unsichere Fรคlle lassen sich durch eine unverbindliche Beratung bei Sozialverband, EUTBโStelle oder Fachanwรคltin klรคren, bevor man das Amt formell einschaltet.
Strategie schlรคgt Zufall
MehrโฏSchwerbehindertenโโProzenteโ โ korrekt: ein hรถhererโฏGdB โ entstehen nicht durch arithmetisches Aufsummieren, sondern durch prรคzise belegte Funktionsยญeinbuรen, die nach den VersMedVโBandbreiten bewertet werden.
Wer Fristen wahrt, Beeintrรคchtigungen ausfรผhrlich dokumentiert, Synergieยญeffekte plausibel macht und notfalls den Rechtsweg beschreitet, kann einen zu niedrigen Bescheid wirksam korrigieren. Die Erfahrung der Beratungsยญpraxis zeigt: Gut vorbereitete Antrรคge und Widersprรผche haben bemerkenswerte Erfolgsaussichten.