Es beginnt oft mit einer leisen Irritation: Menschen, die eine Schwerbehinderung beantragen oder ihren bestehenden Grad der Behinderung (GdB) aktualisieren wollen, berichten vermehrt von unerwarteten Anforderungen. Zusätzliche Gutachten, detaillierte Stellungnahmen, aufwendige Nachweise.
Wo früher eine ärztliche Einschätzung ausreichte, verlangen die Versorgungsämter heute mitunter umfangreichere Dokumentationen. Der behördliche Ton bleibt freundlich, doch der Subtext ist klar: Vertrauen ist gut, Belege sind besser.
Inhaltsverzeichnis
Keine Gesetzesänderung – aber neue Auslegung in der Praxis?
An der gesetzlichen Grundlage hat sich bislang nichts geändert. Die Feststellung des GdB basiert weiterhin auf der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), die bundeseinheitlich regelt, wie körperliche, seelische und geistige Beeinträchtigungen bewertet werden. Auch eine gesetzliche “Verschärfung der Nachweispflicht” ist nicht erfolgt.
Und doch berichten Betroffene sowie Beratungsstellen über eine spürbare Veränderung in der Auslegungspraxis. Insbesondere bei Anträgen auf Feststellung oder Erhöhung des GdB scheinen die Anforderungen gestiegen zu sein. Dabei handelt es sich allerdings nicht um belegbare Zahlen, sondern um qualitative Einschätzungen aus dem Beratungsalltag.
Verunsicherung durch Unklarheit
Hintergrund der aktuellen Entwicklung könnte die geplante Reform der VersMedV im Jahr 2025 sein. Diese verfolgt das Ziel, die Bewertung von Behinderungen stärker an der UN-Behindertenrechtskonvention auszurichten und die Teilhabeperspektive zu betonen. Die genauen Auswirkungen dieser Reform sind jedoch noch nicht absehbar.
Einige Ämter könnten bereits heute restriktiver bewerten, um sich auf die neuen Regelungen vorzubereiten. Belegen lässt sich das bislang nicht mit belastbaren Daten. Auch gibt es keine offizielle Statistik, die zeigt, ob Ablehnungen zugenommen oder Nachweispflichten systematisch ausgeweitet wurden.
Antragsteller müssen konkret und nachvollziehbar darlegen
Fakt ist: Die Versorgungsämter prüfen nicht allein Diagnosen, sondern vor allem die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Wer heute eine Behinderung nachweisen will, sollte die Einschränkungen im Alltag möglichst konkret beschreiben.
Welche Tätigkeiten sind erschwert? Wie wirkt sich die Erkrankung auf Beruf, Mobilität oder soziale Kontakte aus?
Gerade bei psychischen Erkrankungen oder chronischen Schmerzen ist das besonders wichtig. In diesen Fällen sind aussagekräftige ärztliche Stellungnahmen hilfreich, die den Verlauf und die Einschränkungen nachvollziehbar schildern.
GdB nicht gleich Addition: Was bei Mehrfachbeeinträchtigungen gilt
Bei mehreren Gesundheitsstörungen wird nicht automatisch addiert. Vielmehr entscheidet die sogenannte “wesentliche Mehrwirkung” darüber, ob sich der Gesamt-GdB erhöht. Das bedeutet: Nur wenn die einzelnen Beeinträchtigungen einander verstärken und die Teilhabe zusätzlich einschränken, kann ein höherer GdB anerkannt werden.
Auch das ist keine neue Regelung, aber sie wird offenbar in der Praxis zunehmend enger ausgelegt. Konkrete Zahlen oder eine systematische Erfassung dieses Trends existieren jedoch nicht.
Zunahme von Nachprüfungen? Beobachtung statt Beweis
Vereinzelt berichten Betroffene und Sozialverbände von häufigeren Nachprüfungen, auch bei unbefristet ausgestellten Ausweisen. Rechtlich zulässig ist das: Eine unbefristete Feststellung schließt eine Nachprüfung nicht aus, wenn sich Anhaltspunkte für eine gesundheitliche Besserung ergeben.
Auch hier fehlen jedoch offizielle Statistiken, die eine flächendeckende Verschärfung belegen würden.
GdB-Verfahren im Wandel: Beobachtete Tendenzen in der Praxis
| Bereich | Entwicklung | 
| Nachweise | Früher reichten Diagnosen aus. Heute sind ergänzend Alltagsbeschreibungen, funktionale Einschränkungen und ein verlässlicher Verlauf notwendig. | 
| Psychische Erkrankungen | Anerkennung war früher allein durch die Diagnose möglich. Jetzt wird ein nachhaltiger Einfluss auf die Teilhabe verlangt. | 
| Mehrfachbeeinträchtigungen | Einzel-GdB wurden oft addiert. Nun erhöht sich der Gesamt-GdB nur bei “wesentlicher Mehrwirkung”. | 
| Nachprüfungen | Früher selten, meist bei befristetem Ausweis. Heute zunehmend auch bei unbefristeten Anerkennungen. | 
| Landesübergreifende Praxis | Früher weitgehend einheitlich. Heute existieren Unterschiede bei Anforderungen und Bewertungen, belegbar ist das aber nur punktuell. | 
Verunsicherung auf beiden Seiten: Antrag richtig vorbereiten
Für Antragsteller entsteht eine schwierige Situation: Die Anforderungen sind nicht offiziell gestiegen, doch die Erwartung scheint größer. Wer seine Rechte sichern will, sollte den Antrag gut begründen und gegebenenfalls fachliche Hilfe in Anspruch nehmen.
Beratungsstellen, Sozialverbände oder spezialisierte Anwält:innen können unterstützen. Denn auch wenn keine statistisch nachgewiesene “Verschärfung” vorliegt, kann der Eindruck real sein – und Konsequenzen haben.
Keine Panik, aber Vorsicht ist geboten
Es gibt keine neue Gesetzeslage, aber eine gefühlte Verschiebung in der Praxis. Wer einen Antrag stellt oder einen bestehenden GdB erhalten möchte, sollte vorbereitet sein.
Eine Statistik zur Zahl der abgelehnten GdB-Anträge oder zur Entwicklung der Nachprüfungsquote liegt bislang nicht vor.




