Ein aktueller Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg (Az. L 11 SB 11/23) zeigt, wie streng die Anforderungen fรผr das Merkzeichen G sind. Die Klage einer schwerbehinderten Frau, die unter anderem an Taubheit, einer Depression und einer leichten Sehbehinderung leidet, wurde abgewiesen.
Das Gericht stellte klar: Weder die Nutzung eines Rollators noch eine Kombination aus mehreren Beeintrรคchtigungen begrรผndet automatisch einen Anspruch auf das Merkzeichen G.
Inhaltsverzeichnis
Wer bekommt das Merkzeichen G?
Das Merkzeichen G wird vergeben, wenn Menschen in ihrer Bewegungsfรคhigkeit im รถffentlichen Raum erheblich eingeschrรคnkt sind. Es ermรถglicht unter anderem steuerliche Erleichterungen, einen hรคuslichen Fahrdienst oder Ermรครigungen im รPNV.
Dabei reicht nicht jede Gehbehinderung oder chronische Erkrankung aus. Entscheidend ist, ob Betroffene eine ortsรผbliche Wegstrecke von etwa zwei Kilometern ohne groรe Anstrengung oder Gefahr meistern kรถnnen.
Der Fall: Hoher GdB, aber kein Anspruch auf “G”
Die Klรคgerin im vorliegenden Fall hatte einen Gesamt-GdB von 90, hervorgerufen durch eine beidseitige Taubheit, Depressionen und weitere Einschrรคnkungen. Sie nutzte einen Rollator, hatte Gleichgewichtsstรถrungen und sah sich durch ihre Beeintrรคchtigungen nicht mehr in der Lage, selbststรคndig Strecken zurรผckzulegen. Dennoch lehnten sowohl das Sozialgericht Berlin als auch das Landessozialgericht die Zuerkennung des Merkzeichens ab.
Warum das Gericht das Merkzeichen verweigerte
Das Gericht prรผfte jede einzelne Einschrรคnkung sorgfรคltig. Dabei zeigte sich, dass keiner der diagnostizierten Gesundheitszustรคnde fรผr sich genommen die Voraussetzungen fรผr “G” erfรผllte. Auch das Zusammenwirken mehrerer Beeintrรคchtigungen war nach Einschรคtzung der Richter nicht ausreichend.
Die Gleichgewichtsstรถrungen etwa wurden รคrztlich nicht als gravierend eingestuft. Die Depression wurde mit einem Einzel-GdB von maximal 30 bewertet, die Sehbehinderung mit einem Einzel-GdB von 10.
Die Kombination mit der Taubheit reichte nach den versorgungsmedizinischen Grundsรคtzen nicht fรผr eine erhebliche Stรถrung der Ausgleichsfunktion. Das bedeutet: Die Klรคgerin war aus Sicht des Gerichts mit ihrer Behinderung noch in der Lage, sich ausreichend zu orientieren und fortzubewegen.
Merkzeichen “Gl” ersetzt kein “G”
Besonders wichtig: Die Frau hatte bereits das Merkzeichen “Gl” fรผr Gehรถrlosigkeit erhalten. Daraus lรคsst sich jedoch kein Anspruch auf “G” ableiten. Beide Merkzeichen erfassen unterschiedliche Einschrรคnkungen und sind rechtlich nicht miteinander verknรผpft. Auch die Nutzung eines Rollators gilt nach der Rechtsprechung nicht automatisch als Nachweis einer erheblichen Gehbehinderung.
Anspruch scheitert an konkreten Kriterien
Die versorgungsmedizinischen Grundsรคtze definieren klare Schwellenwerte: So mรผssen etwa Funktionsstรถrungen der unteren Gliedmaรen oder der Wirbelsรคule einen Einzel-GdB von mindestens 50 erreichen, damit “G” in Betracht kommt.
Auch innere Leiden wie Herz- oder Lungenerkrankungen kรถnnen anerkannt werden โ vorausgesetzt, sie fรผhren zu einer erheblichen Einschrรคnkung der kรถrperlichen Leistungsfรคhigkeit. Diese Voraussetzungen lagen im Fall der Klรคgerin nicht vor.
Einzel-GdB nicht feststellbar
Ein weiterer Aspekt des Urteils betrifft die juristische Frage, ob ein Einzel-GdB รผberhaupt isoliert festgestellt werden kann. Die Richter verneinten dies. Die Bewertung einzelner Gesundheitsstรถrungen sei zwar intern notwendig, aber rechtlich nicht selbststรคndig angreifbar.
Nur der Gesamt-GdB hat Bindungswirkung. Wer beispielsweise einen bestimmten Einzel-GdB benรถtigt, um andere Sozialleistungen (z. B. Landespflegegeld) zu erhalten, kann sich nicht erfolgreich allein auf die Einzelbewertung berufen.
Merkzeichen G bleibt Ausnahme
Das Urteil unterstreicht, wie hoch die Hรผrden fรผr das Merkzeichen G sind. Selbst eine Kombination mehrerer Einschrรคnkungen reicht nicht automatisch aus. Entscheidend ist die konkrete Auswirkung auf das Gehvermรถgen und die Orientierungsfรคhigkeit. Menschen mit Schwerbehinderung sollten sich vor einem Antrag gut beraten lassen, welche Voraussetzungen sie erfรผllen โ und ob eine Verbesserung durch รคrztliche Gutachten belegbar ist.