Wegweisend bei Schwerbehinderung: Merkzeichen G auch bei psychischen Leiden

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Die Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Saarland vomโ€ฏ5.โ€ฏJuniโ€ฏ2019 (Az.โ€ฏLโ€ฏ5โ€ฏSBโ€ฏ30/16) zeigt einen Wendepunkt im Schwerbehindertenrecht.

Erstmals hat ein oberes Sozialgericht ausdrรผcklich anerkannt, dass eine massive Gehbehinderung auch dann vorliegen kann, wenn ihre Ursachen vor allem psychischer Natur sind.

Damit รถffnet sich das Merkzeichen โ€žGโ€œ fรผr eine Patientengruppe, die bislang hรคufig an formalen Schwellenwerten scheiterte.

Der lange Weg einer Rentnerin โ€“ vom Antrag zur Berufung

Ausgangspunkt war der Antrag einer รผber siebzigjรคhrigen Saarlรคnderin, die seit Jahren unter schweren Depressionen, Angststรถrungen und chronischen Schmerzen litt. Sie beantragte beim Versorgungsamt die Erhรถhung ihres Grades der Behinderung (GdB) aufโ€ฏ100 und die Eintragung der Merkzeichen โ€žGโ€œ und โ€žRFโ€œ.

Die Behรถrde erkannte lediglich einen GdBโ€ฏvonโ€ฏ70 an und verneinte jede Mobilitรคtsโ€‘Vergรผnstigung mit dem Argument, die orthopรคdischen Funktionsstรถrungen ihrer Beine erreichten nicht den Richtwert vonโ€ฏ40 Einzelโ€‘GdB, den die Verwaltungspraxis als Untergrenze fรผr das Merkzeichen โ€žGโ€œ ansieht.

Das erstinstanzliche Sozialgericht folgte dieser Linie. Erst in der Berufung beim LSG kam die Kehrtwende: Die Richter setzten den Gesamtโ€‘GdB aufโ€ฏ80 fest und gewรคhrten das Merkzeichen โ€žGโ€œ rรผckwirkend ab dem 21.โ€ฏSeptemberโ€ฏ2017.

Warum psychische Leiden das gleiche Gewicht erhielten wie orthopรคdische Defizite

Entscheidend war die funktionale Betrachtung: Nach eingehender Begutachtung stand fรผr das Gericht fest, dass die Rentnerin nicht mehr in der Lage war, die innerรถrtlich รผbliche Wegstrecke von zwei Kilometern in einer halben Stunde zu bewรคltigen โ€“ eine Distanz, die das Bundessozialgericht (BSG) seit Langem als Referenz fรผr normale Mobilitรคt heranzieht.

Die Beeintrรคchtigung ergab sich weniger aus den Arthroseschmerzen der Knie als aus Antriebsverlust, Angst vor Panikattacken und fatiguematischer Erschรถpfung.

Das LSG betonte, Teilโ€ฏDโ€ฏNr.โ€ฏ1โ€ฏd der Versorgungsmedizinischen Grundsรคtze (VMG) enthalte lediglich Regelbeispiele; weder seien dort aufgefรผhrte Ursachen abschlieรŸend noch ein Einzelโ€‘GdB vonโ€ฏ40 an den unteren GliedmaรŸen zwingende Voraussetzung.

Gesamtโ€‘GdB โ€“ richterliche Wรผrdigung statt Rechenaufgabe

Bei der Bildung des Gesamtโ€‘GdB beschritt das Gericht den inzwischen gefestigten Pfad der Rechtsprechung, wonach Einzelwerte nicht mathematisch addiert werden.

Vielmehr erfolgt eine Gesamtwรผrdigung aller wechselseitigen Auswirkungen; dabei ist das Gericht an die Vorschlรคge von Sachverstรคndigen nicht gebunden, sondern trifft seine Entscheidung in freier Beweiswรผrdigung (ยงโ€ฏ128โ€ฏSGG).

Diese Linie hatte das BSG bereits 1987 und 1993 vorgezeichnet und sie wurde vom LSG Saarland ausdrรผcklich aufgegriffen.

Merkzeichen โ€žGโ€œ im Gesetzesrahmen

ยงโ€ฏ229โ€ฏSGBโ€ฏIX definiert eine โ€žerhebliche Beeintrรคchtigung der Bewegungsfรคhigkeit im StraรŸenverkehrโ€œ, wenn die betreffende Person รผbliche Wegstrecken nur noch unter erheblichen Schwierigkeiten oder Gefahren zurรผcklegen kann. Die VMG konkretisieren dies mit der Zweiโ€‘Kilometerโ€‘inโ€‘30โ€‘Minutenโ€‘Regel.

Zugleich stellen sie klar, dass auch innere Leiden, Anfรคlle oder Stรถrungen der Orientierungsfรคhigkeit โ€“ also ausdrรผcklich psychische oder psychosomatische Erkrankungen โ€“ den Anspruch begrรผnden kรถnnen. Damit steht eine offene Tรผr bereit, die das LSG jetzt weit aufgestoรŸen hat.

Urteil mit Signalwirkung รผber das Saarland hinaus

Dass psychische Erkrankungen Mobilitรคt mindestens ebenso stark einschrรคnken kรถnnen wie orthopรคdische Defekte, war รคrztlich lรคngst unbestritten. Doch viele Antrรคge scheiterten an starren Verwaltungspraxisโ€‘Grenzen.

Das Saarbrรผcker Urteil zwingt Leistungstrรคger, kรผnftig genauer hinzusehen, welche Krankheit die Gehfรคhigkeit tatsรคchlich einschrรคnkt. Behรถrden werden nicht mehr argumentieren kรถnnen, es fehle schlicht an einem orthopรคdischen Einzelโ€‘GdBโ€ฏvonโ€ฏ40.

Vielmehr mรผssen sie โ€“ wie das Gericht โ€“ alle somatischen und seelischen Faktoren zusammen betrachten und ihre Wechselwirkungen bewerten.

Was Betroffene aus dem Richterspruch lernen kรถnnen

Wer unter Depressionen, Angsterkrankungen, Schmerzโ€‘ oder Fatigueโ€‘Syndromen leidet und deshalb schon nach wenigen hundert Metern erschรถpft ist, sollte ein Schwerbehindertenverfahren nicht allein auf orthopรคdische Gutachten stรผtzen.

Wichtiger ist eine fundierte psychiatrische oder psychosomatische Dokumentation, die die Alltagsfolgen beschreibt. Gehprotokolle, Berichte รผber Panikattacken auf offener StraรŸe oder Nachweise รผber Hilfsmittelโ€‘ und Begleitpersoneneinsatz geben den Gerichten die nรถtige Grundlage, individuelle Mobilitรคt realistisch einzuschรคtzen.

Vorteile, die jetzt erreichbar sind

Mit dem Merkzeichen โ€žGโ€œ stehen Vergรผnstigungen bereit, die die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erleichtern: insbesondere freie oder ermรครŸigte Nutzung des รถffentlichen Nahverkehrs, steuerliche Erleichterungen fรผr Fahrten und eine merkliche Entlastung beim Autokauf oder Betrieb des eigenen Fahrzeugs.

Die Sozialrechtspraxis zeigt, dass diese Erleichterungen den Alltag vieler psychisch kranker Menschen spรผrbar stabilisieren, weil sie ร„ngste vor Kosten und organisatorischen Hรผrden abbauen.

Ein Schritt hin zu unsichtbarer Inklusion

Das Urteil aus Saarbrรผcken reiht sich in eine Serie jรผngerer BSGโ€‘Beschlรผsse ein, in denen psychische Leiden ebenso intensiv geprรผft werden wie kรถrperliche. Es ist ein deutliches Signal, dass Inklusion dort beginnt, wo das Recht Unsichtbares sichtbar macht.

Die Anerkennung der Seele als limitierender Faktor der Gehfรคhigkeit bringt das Schwerbehindertenrecht nรคher an die Lebenswirklichkeit vieler chronisch Erkrankter. Sie erรถffnet zugleich eine Debatte รผber weitere Nachteilsausgleiche, bei denen psychische Behinderungen bisher unterreprรคsentiert sind.

Ausblick

Vieles deutet darauf hin, dass die Verwaltungspraxis ihre Leitlinien anpassen muss. Denn nach dieser Entscheidung kรถnnen sich Betroffene und ihre Rechtsvertreter auf ein obergerichtliches Fundament stรผtzen, wenn sie das Merkzeichen โ€žGโ€œ beantragen.

Wer sich in seiner Bewegungsfreiheit durch seelische Erkrankungen eingeschrรคnkt fรผhlt, sollte das Urteil als Ermutigung verstehen, seinen Anspruch prรผfen zu lassen. Das Urteil hat gezeigt, dass Mobilitรคt keine Frage des betroffenen Organs ist โ€“ sondern eine Frage des tatsรคchlichen Kรถnnens.