Online-Überwachung: Frontalangriff auf das Grundgesetz
20.06.2017
Die Bundesregierung versucht, kurz vor dem Ende der Legislaturperiode, schwerste Grundrechtseingriffe durchzuführen – heimlich und ohne öffentliche Debatte. Zu diesem Schluss kommen sechs Menschenrechtsorganisationen.
Humanistische Union e.V.; Internationale Liga für Menschenrechte e.V.; Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.; Neue Richtervereinigung e.V.; Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.; Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. bezogen öffentlich Stellung zu einem Gesetzesentwurf der Regierungskoalition, in dem es um Online-Durchsuchung und Quellen-Telekommunikationsüberwachung im Strafverfahren geht.
Eingriff in elementare Menschenrechte
Diese Punkte sind seit Jahren heftig umstritten und beschäftigten auch das Bundesverfassungsgericht. Datenschützer warnen seit langem davor, dass die groß angelegte Online-Durchsuchung elementare Menschenrechte für Unbescholtene außer Kraft setzt.
Heimliche Trojaner
Werden diese Überwachungen Gesetz, können die Ermittler mit Trojanern in die Smartphones, Laptops oder Tablets der Betroffenen eindringen. Bei einer Online-Untersuchung würden sie auf sämtliche Daten zugreifen, die der Bürger gespeichert hat. Es wäre wesentlich schlimmer als der sogenannte große Lauschangriff: Jede Intimität der Betroffenen wäre den Behörden bekannt.
Zum allergrößten Teil handelt es sich um Informationen, bei denen Verteidiger vor Gericht in der Regel erfolgreich durchsetzen, dass der Kläger sie nicht beantworten muss, weil sie nicht zur Wahrheitsfindung im entsprechenden Verfahren beitragen: Von sexuellen Fantasien bis zu Ängsten, von geheimen Chats – die Ermittler bekommen ein Einblick in Gedanken und Gefühle, die sie nichts angeht.
Totalitäres Potenzial
Die Bürgerrechtler warnen, dass solche Überwachungen ein totalitäres Potenzial hätten, das sich kaum kontrollieren ließe. Deshalb habe es in der Strafprozessordnung nichts zu suchen.
Zwar haben die ermittelnden Behörden schon heute die Möglichkeit, gespeicherte Daten einzusehen – dies geschieht aber offen. Sie beschlagnahmen dazu die Datenträger.
Die Regierung stellt sich damit gegen das Bundesverfassungsgericht. Dieses hatte nämlich klargestellt, dass es für einen Zugriff auf private Daten extrem enge Grenzen gibt, und sie nur bei schweren Verbrechen durchgeführt werden darf. Der neue Entwurf ermöglicht dagegen eine heimliche Überwachung bereits bei mittelschweren Delikten.
Noch mehr Terror gegen Hartz IV Betroffene
Was würde ein solches Gesetz für Hartz IV Betroffene bedeuten: Sie befinden sich sowieso de facto in einer Art offenem Strafvollzug. Die Jobcenter schnüffeln in ihren privaten Angelegenheiten herum – von den Liebesbeziehungen, die sie führen über ihre Finanzen bis zur Wohnung und Jobsuche. Diese lassen sich ohne weiteres mit den Bewährungsauflagen für verurteilte Kriminelle vergleichen.
Beim kleinsten „Verstoß“ gegen diese Zumutungen folgt die Strafe – der Entzug der lebensnotwendigen Mittel. Bereits jetzt haben denken viele Jobcenter, dass sie nahezu staatsanwaltliche Befugnisse hätten. Es kommt immer wieder zu schweren Verletzungen der Grundrechte von Bürgern, nur weil sie auf Sozialleistungen angewiesen sind.
Der Willkür die Tür geöffnet
Ermittelt die Staatsanwaltschaft jetzt wegen „mittelschwerer Kriminalität“ gegen Hartz IV Betroffene und schleicht sich heimlich in deren digitale Kommunikation ein, erfahren sie Dinge, die die Schnüffler bei den Jobcentern brennend interessieren.
Haben die Betroffenen einen Plan B in petto? Tauschen sie sich über (ganz legale) Tricks aus, die ihnen einen Freiraum gegenüber den Drangsalierungen der Jobcenter verschaffen? Haben sie vielleicht Geld auf dem Konto eines Freundes liegen, damit das Jobcenter ihnen nicht den letzten Euro nimmt?
Das alles würden die ermittelnden Behörden in Zukunft erfahren. Natürlich dürften sie solche Informationen nicht an die Jobcenter weiterleiten. Aber glaubt noch jemand an den Weihnachtsmann? (Dr. Utz Anhalt)
Bild: Glebstock – fotolia
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