Der Streit, der seit dieser Woche vor dem Arbeitsgericht Lüneburg anhängig ist, wirkt auf den ersten Blick wie ein Einzelfall, doch er zeigt ein Grundsatzthema des deutschen Kündigungsschutzrechts.
Ein 36‑jähriger Versandmitarbeiter aus dem Amazon‑Logistikzentrum Winsen (Luhe) war zwischen 2022 und Anfang 2025 an insgesamt 243 Kalendertagen arbeitsunfähig gemeldet. Nachdem der Konzern ihm im Februar kündigte, verlangt der Beschäftigte nun gerichtlichen Schutz und strebt die Weiterbeschäftigung an.
Inhaltsverzeichnis
Viele Fehltage
Aus der von Amazons Prozessbevollmächtigten vorgelegten Fehlzeitenübersicht ergibt sich ein Muster vieler, jeweils nur wenige Tage dauernder Krankmeldungen.
Im Kalenderjahr 2022 waren es laut Gerichtsprotokoll sechzig Ausfalltage, im Jahr darauf fünfundfünfzig, 2024 steigerte sich die Zahl auf 128 Tage; bis zum Gütetermin Mitte April lagen bereits weitere dreißig Fehltage vor.
Der Grund sei durchgehend eine nicht auskurierte Fußverletzung, die der Mann laut eigener Darstellung bei der Arbeit erlitt. Nach Angaben seiner Anwältin war der Fuß nie dauerhaft verheilt, weil der Beschäftigte immer wieder zum Dienst erschien, sobald eine Krankschreibung auslief.
Hat Amazon gegen das Kündigungsschutzrecht verstoßen?
Kündigungen wegen häufiger Kurzzeiterkrankungen sind in Deutschland nur unter sehr engen Voraussetzungen wirksam.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts muss der Arbeitgeber zunächst eine „negative Gesundheitsprognose“ nachweisen: Es müssen objektive Umstände vorliegen, aus denen zu erwarten ist, dass die Fehlzeiten das betriebliche Minimum von sechs Wochen pro Jahr auch in Zukunft überschreiten.
Außerdem muss dargelegt werden, dass die betrieblichen Abläufe oder die Entgeltfortzahlung dadurch erheblich belastet sind und dass eine Interessenabwägung zugunsten des Unternehmens ausfällt.
Wurde ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt?
Ein rechtliches Prüfkriterium ist, ob der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung alles Zumutbare versucht hat, um die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Dazu gehört das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) nach § 167 Abs. 2 SGB IX.
Ob Amazon ein solches Verfahren ordnungsgemäß angeboten oder durchgeführt hat, ist öffentlich bislang nicht bekannt. Sollte es versäumt worden sein, erhöht sich im Prozess die Darlegungslast des Unternehmens, denn das Fehlen eines BEM kann ein Indiz dafür sein, dass mildere Mittel als die Kündigung möglich gewesen wären.
Lesen Sie auch:
– Kündigung: So hoch ist die Abfindung nach einem bis 50 Jahre Beschäftigung – Abfindungstabelle
Wie hoch kann die Abfindung sein?
Während des Gütetermins bot Amazon dem Kläger eine Abfindung von 10 000 Euro an. Der Arbeitnehmer verlangt hingegen 28 000 Euro – also fast ein ganzes Jahresgehalt, denn sein Bruttomonatslohn beträgt rund 3 000 Euro.
Der Richter zeigte sich überrascht, weil in vergleichbaren Verfahren häufig ein Richtwert von einem halben Bruttomonatsverdienst pro Beschäftigungsjahr herangezogen wird.
Da der Gekündigte erst seit 2019 im Betrieb ist, würde das rechnerisch auf knapp 9 000 Euro hinauslaufen. Beide Seiten beharren jedoch auf ihren Positionen; eine Einigung kam daher nicht zustande.
Was sagen Juristinnen und Gewerkschaften zur Erfolgsaussicht der Klage?
Arbeitsrechtlerinnen halten eine personenbedingte Kündigung wegen häufiger Kurzzeiterkrankungen zwar grundsätzlich für möglich, aber nur wenn alle drei Prüfungsstufen erfüllt sind und sich keine weniger einschneidende Lösung zeigt.
Ver.di‑Vertreterin Havva Öztürk betont, dass die Hürden „extrem hoch“ seien, weil der Arbeitgeber bei dynamischen Krankheitsbildern schwer belegen könne, wie sich der Gesundheitszustand künftig entwickelt.
Zudem müsse er nachweisen, dass der Mitarbeiter nicht anderweitig, etwa in einer weniger laufintensiven Tätigkeit, eingesetzt werden könne.
Vorwurf hoher Arbeitsbelastung
Amazon verweist darauf, dass in Winsen zunehmend Transport‑ und Kommissionier‑Roboter die langen Wege zwischen den Regalen übernehmen. Das Unternehmen sieht deshalb keine ursächliche Verbindung zwischen der Laufleistung und der Fußverletzung des Klägers.
Beobachter verweisen allerdings darauf, dass der Standort erst 2018 in Betrieb ging und trotz Automatisierung weiterhin mehrere Kilometer Fußweg pro Schicht anfallen können. Gewerkschaftliche Studien beschreiben die Arbeit in den Fulfillment‑Centern als körperlich fordernd, auch weil das Tempo von algorithmisch gesteuerten Pick‑ und Pack‑Vorgaben bestimmt wird.
Weiterer Verfahrensausgang könnte Grundsatz erwirken
Gelingt dem Kläger der Nachweis, dass seine Verletzung arbeitsbedingt ist, könnte neben der Kündigungsschutzklage auch ein Anspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen oder gar Unfallrente in Betracht kommen.
Unabhängig davon beobachten Fachleute den Prozess mit Blick auf eine mögliche Präzedenzwirkung: Sollte das Gericht Amazons Darlegung der negativen Gesundheitsprognose als unzureichend bewerten, wäre das ein deutliches Signal, dass Arbeitgeber bei häufigen, aber jeweils kurzzeitigen Ausfällen sehr sorgfältig prüfen müssen, ob ein BEM, eine Versetzung oder ergonomische Anpassungen infrage kommen.
Wann fällt das Arbeitsgericht ein Urteil – und welche Signalwirkung hätte es?
Der Kammertermin ist für August angesetzt. Kommt es nicht zu einem Vergleich, muss die Kammer erst über die soziale Rechtfertigung der Kündigung entscheiden, dann über die begehrte Abfindung. Fällt das Urteil zugunsten des Mitarbeiters aus, stünde Amazon vor der Wahl, ihn wiedereinzustellen oder doch noch eine höher dotierte Abfindung anzubieten.
Ein Erfolg des Unternehmens wiederum würde zeigen, dass Gerichte auch bei häufigen Kurzzeiterkrankungen eine Kündigung billigen können, sofern sie gut begründet und formell einwandfrei vorbereitet ist.
In jedem Fall dürfte der Spruch des Gerichts Maßstäbe setzen, wie Betriebe krankheitsbedingte Fehlzeiten in einer Arbeitswelt mit wachsender Automatisierung rechtssicher handhaben.