Hartz IV durchleuchtet: „Wir hätten da auch ein paar Vorschläge…“ Anforderungen der gewerkschaftlichen Erwerbsloseninitiativen an eine neue Arbeitsmarktpolitik!
Der schon länger absehbare wirtschaftliche Abschwung wird – verschärft durch die Folgen der Finanzmarktkrise – im Jahr 2009 zu einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Arbeitsmarktpolitik insgesamt und vor allem die aktiven Instrumente, die zusätzliche Beschäftigung schaffen können, wieder an Bedeutung. Umso dringlicher ist nun ein grundlegender Richtungswechsel in der Arbeitsmarktpolitik.
Zwar hat die Bundesregierung mit dem „Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente“ über 90 Änderungen vollzogen. Aber anders als der Titel vermuten lässt, setzt die große Koalition damit die von Rot-Grün begonnene
Arbeitsmarktpolitik der Agenda 2010 fort: Eine Politik, die Erwerbslose entrechtet und in die Armut treibt und die eine drastische Zunahme von prekärer Beschäftigung und Niedriglöhnen bewirkt.
Die Regierungskoalition verweigert bisher eine ehrliche und selbstkritische Bestandsaufnahme, wie die vorhergehenden Arbeitsmarktreformen gewirkt haben. Folglich findet eine dringend notwendige Kurskorrektur auch mit der aktuellen Gesetzesänderung nicht statt.
Gerade für die aktiven Leistungen der Arbeitsmarktpolitik gilt: Es wird abermals die Chance vertan, die arbeitsmarktpolitischen Instrumente im Interesse der Erwerbslosen – also der Adressaten, denen die Arbeitsförderung helfen soll – grundlegend neu zu gestalten. Als Erwerbsloseninitiativen haben wir dazu durchaus einige Vorschläge zu machen:
1. Wir wollen arbeiten. Wir suchen gute, gut bezahlte und sozial abgesicherte Arbeit. Wir wollen eine leistungsstarke, öffentliche Arbeitsverwaltung, die uns bei Bedarf dabei hilft, solche gute Arbeit zu finden. Wir wollen hochwertige Eingliederungshilfen
und Maßnahmen, die uns eine Perspektive bieten. Und wir wollen öffentlich geförderte Beschäftigung, die für uns zusätzliche, sinnvolle Arbeit in Form regulärer Arbeitsverhältnisse schafft und die der Gesellschaft nützt.
2. Vielen von uns Erwerbslosen fehlt nichts als ein Arbeitsplatz! Viele von uns haben keinerlei „Handicap“, sondern sind gut ausgebildet und die erworbenen Qualifikationen sind auch „up to date“. Wir brauchen dann keine „Therapie“ und keine
„Betreuung“ – wir brauchen existenzsichernde Arbeit!
Andere von uns sind auf zusätzliche Hilfe und Unterstützung angewiesen: Etwa weil sie als ältere Erwerbslose besonders benachteiligt und chancenlos sind, weil sie zulange aus dem erlernten Beruf raus sind oder weil lang anhaltende Arbeitslosigkeit
ihre Spuren hinterlassen hat. Deshalb brauchen und wollen wir eine leistungsfähige, öffentliche Arbeitsverwaltung, die uns gute Angebote macht!
3. Wir wissen: Die Ursachen der Massenarbeitslosigkeit liegen weder in einer mangelnden Arbeitsbereitschaft der Erwerbslosen noch in Defiziten der Arbeitsverwaltung begründet. Massenarbeitslosigkeit ist kein individuelles sondern ein strukturelles, gesellschaftliches Problem, das volkswirtschaftlich angegangen werden muss. Selbst eine „weltbeste“ Arbeitsmarktpolitik kann die Unterbeschäftigung, also die Lücke in Millionenhöhe zwischen angebotener und Arbeitslosengruppen nachgefragter Arbeit nicht lösen. Dazu sind ein Politikwechsel in der Wirtschafts-, Finanz- und Verteilungspolitik erforderlich sowie kürzere Arbeitszeiten notwendig.
Aber: Eine verbesserte Arbeitsmarktpolitik kann sehr wohl – insbesondere über Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung – erworbene Qualifikationen erhalten und verbessern und somit die individuellen Chancen auf einen Arbeitsplatz erhöhen. So
kann Arbeitsmarktpolitik zumindest einer Verfestigung der (Langzeit)Arbeitslosigkeit entgegenwirken. Und mit öffentlich geförderter Beschäftigung kann das Angebot an gesellschaftlich sinnvoller Arbeit und an Arbeitsplätzen unmittelbar erhöht und so die Unterbeschäftigung verringert werden.
Wir fordern, die öffentlich geförderte Beschäftigung deutlich auszuweiten – auch und gerade vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Abschwungs, der sich schon länger abzeichnete und nun aktuell durch die Folgen der Finanzmarktkrise deutlich an Brisanz gewonnen hat. Bei einem prognostizierten Rückgang der Wirtschaftsleistung um rund 2 Prozent steht uns eine gravierende, negative Trendwende am Arbeitsmarkt bevor: Der Zuwachs bei der Erwerbstätigkeit und auch bei den
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen aus der Vergangenheit wird sich in einen Rückgang der Beschäftigung und Entlassungen verkehren. Trotz einer für den Arbeitsmarkt günstigen demografischen Entwicklung – im Jahr 2009 sinkt die
Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter um 130.000 – wird die registrierte Arbeitslosigkeit deutlich ansteigen.
4. Die zurückliegenden „Hartz IV-Reformen“ haben den Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt massiv erhöht. Not macht erpressbar. Dies ist kein „Kollateralschaden“ sondern Kern der „Aktivierungspolitik“ und von den Erfindern der Agenda 2010
politisch gewollt: Denn sie beantworten die strukturelle Unterbeschäftigung mit der Forderung, die Ware Arbeitskraft billiger zu machen. Trotz millionenfach fehlender Arbeitsplätze sollen Erwerbslose „aktiviert“ werden und das Arbeitskräfteangebot sogar noch gesteigert werden – also Millionen in nicht vorhandene Arbeitsplätze gezwungen werden –, um den Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Nach dieser „Logik“ liegt die Hauptursache für die Arbeitslosigkeit immer in der mangelnden Bereitschaft der Erwerbslosen, niedrig entlohnte Arbeit anzunehmen. Folglich hat die Arbeitsmarktpolitik repressiven, drohenden und strafenden Charakter: Es soll eine höhere „Konzessionsbereitschaft“ der Erwerbslosen erzwungen und über Druck zusätzliche Beschäftigung im Niedriglohnsektor ausgelöst werden, wo ein bisher unerschlossenes Beschäftigungspotential vermutet wird – insbesondere bei den haushaltsnahen Dienstleistungen.
Von diesem Aktivierungsansatz profitieren ausschließlich die Arbeitgeber. Wer auf Lohnarbeit angewiesen ist, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, der „zahlt drauf“ – sei es als Beschäftigter oder Erwerbsloser.
Eine Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente im Interesse der Arbeitnehmer erfordert einen Bruch mit dieser Aktivierungspolitik. Dazu müssen vor allem die Zumutbarkeitsregeln so geändert werden, dass die Ausweitung prekärer Arbeit nicht länger gefördert sondern eingedämmt wird: Es sollten nur solche Stellenangebote als zumutbar gelten und angenommen werden müssen, die mindestens existenzsichernd entlohnt werden und einen vollen Sozialversicherungsschutz bieten.
5. Wir fordern im Umgang mit uns Erwerbslosen in der Arbeitsmarktpolitik einen Paradigmenwechsel: Die Leistungen der Arbeitsförderung und die Arbeitsweise der Arbeitsverwaltung müssen adressatenorientiert und kooperativ angelegt sein. Die Bezeichnung der Erwerbslosen als „Kunden“ ist nur irreführende Rhetorik. Erwerbslose sind derzeit keine autonom handelnden Kunden. Sie können sich weder ihren Arbeitsmarktdienstleister noch die konkrete Dienstleistung aussuchen, die sie nutzen möchten. Im Gegenteil, Erwerbslose sind heute oftmals bloß Objekte und der Arbeitsverwaltung ohnmächtig ausgeliefert: Das Amt entscheidet, ob und welche Maßnahmen notwendig sind und gewährt werden bzw. welche Auflagen und Pflichten der Erwerbslose zunächst erfüllen muss. In einer ausgesprochen hierarchisch strukturierten „Beziehung“ werden Eingliederungsmaßnahmen einseitig verordnet und den Erwerbslosen „übergestülpt“.
Stattdessen fordern wir, die arbeitsmarktpolitischen Leistungen als Prozess der Interaktion zwischen Arbeitsverwaltung und Erwerbslosen zu verstehen und als Kooperation auszugestalten. Wir wollen ein Zusammenwirken auf gleicher Augenhöhe, einen gemeinsamen Klärungs- und Aushandlungsprozess, in dem sich Erwerbslose als selbstbestimmte Subjekte mit Handlungsautonomie einbringen können.
6. Die Rechtsposition der Erwerbslosen bei der aktiven Arbeitsförderung muss gestärkt werden. Nahezu alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente sind als Kann- Leistungen ausgestaltet. Ihr Einsatz liegt im Ermessen der Arbeitsagenturen bzw. ARGEn.
Wir fordern einen Rechtsanspruch auf Hilfe: Spätestens nach einem halben Jahr der Arbeitslosigkeit sollte Erwerbslosen eine qualitativ hochwertige Maßnahme oder eine öffentlich geförderte Beschäftigung angeboten werden müssen. Außerdem gehören zu einer adressatenbezogenen und kooperativen Arbeitsmarktpolitik auch gesetzlich verbriefte Entscheidungsbefugnisse: Erwerbslose müssen auch repressionsfrei „Nein“ sagen können. Ihnen müssen Wunsch- und Wahlrechte zugestanden werden.
7. Kooperation statt Strafandrohung sowie echte Beteiligung statt Bevormundung verbessern auch den Erfolg arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen. Eine gestärkte Rechtsposition von Erwerbslosen ist kein Hindernis für Effizienz und Effektivität sondern teils deren Voraussetzung: Wem nützt es, wenn Teilnehmer aufgezwungene Maßnahmen, in denen sie keine Perspektive und keinen Vorteil für ihr berufliches Weiterkommen erkennen können, in innerer Emigration nur absitzen? Aus professionell-fachlicher Sicht verbieten sich auch Zwangsmittel in Beratungsprozessen, die in der aktiven Arbeitsförderung sehr wichtig sind. Denn kombiniert mit Sanktionen verliert die Dienstleistung „Beratung“ ihren Charakter als Hilfe und die Bedingung für jeden erfolgreichen Beratungsprozess – eine offene und vertrauensvolle Gesprächssituation – wird zerstört. So ist etwa eine Analyse der Stärken und Schwächen eines Erwerbslosen als Basis für weitere Maßnahmen unbestritten sinnvoll. Unbestritten sollte aber auch sein, dass diese Analyse nur dann zutreffende und weiterführende Ergebnisse liefern wird, wenn sich der Arbeitslose freiwillig auf diesen Prozess einlässt und ihn aktiv mit trägt.
8. Das bestehende „Zwei-Klassen-System“ muss überwunden werden, das für Hartz-IV-Bezieher andere und schlechtere Instrumente vorsieht als für Bezieher von
Arbeitslosengeld (ALG) I. Wir brauchen verbesserte Instrumente, zu denen alle Erwerbslosen gleichberechtigt Zugang haben! Heute erreicht die Quote der arbeitslosen Hartz-IV-Bezieher, die eine berufliche Weiterbildung erhalten, nur die Hälfte des Anteils der arbeitslosen ALG-I-Bezieher. Bei den aktiven Leistungen für Hartz-IV-Bezieher dominieren mit über 760.000 Maßnahmen im Jahr 2008 die perspektivlosen 1-Euro-Jobs; sie stellen die Mehrheit der Maßnahmen für Hartz IV Bezieher dar.
9. Eine ausdifferenzierte Maßnahmepalette ist notwendig. Zu unterschiedlich ist die Lage auf den regionalen Arbeitsmärkten und zu verschieden sind die Ausgangsbedingungen der Erwerbslosen. Diese Differenzierung darf aber nicht entlang der Grenze zwischen den Rechtskreisen SGB III (ALG I) und SGB II (Hartz IV) erfolgen. Die Leistungen der Arbeitsförderung müssen sich nach dem Bedarf im Einzelfall richten und nicht nach dem versicherungsrechtlichen Status. Denn dieser Status sagt nicht zwingend etwas über den Bedarf an Qualifizierungs- und Integrationshilfen aus. Die bestehenden, erheblichen Unterschiede z.B. bezüglich Schulbildung, beruflicher Ausbildung oder Dauer der Arbeitslosigkeit verlaufen nicht entlang der Rechtskreise sondern quer zu diesen. Beispiel Langzeitarbeitslose: Zwar befindet sich die überwiegende Mehrheit der Langzeitarbeitslosen (88 %) in Hartz IV.
Aber von den zuletzt 3,1 Millionen erwerbslosen Hartz IV-Beziehern sind „nur“ 827.000 langzeitarbeitslos. Die Mehrheit der erwerbslosen Hartz IV-Bezieher ist somit nicht langzeitarbeitslos, während immerhin auch jeder Achte (=116.000) ALG I Bezieher langzeitarbeitslos ist. Ähnliches gilt für die schulische und berufliche Ausbildung: In beiden Rechtskreisen befindet sich eine nicht unerhebliche Anzahl Erwerbsloser mit fehlendem oder nur einem niedrigen Abschluss.
10. Ein-Euro-Jobs sind gemein und nicht nützlich, sie gehören abgeschafft. Sie sind erzwungene Arbeit – ohne Lohn, ohne Arbeitsvertrag, ohne Arbeitnehmerrechte und ohne soziale Absicherung. Sie erhöhen im Regelfall nicht die Chancen auf einen
regulären Arbeitsplatz sondern verdrängen reguläre Arbeit. Statt der 1-Euro-Jobs fordern wir öffentlich geförderte Beschäftigung in Form regulärer, „guter“ Arbeitsverhältnisse.
Im Koalitionsvertrag hatte die Koalition zugesagt, bei Gesetzesänderungen die Erkenntnisse der Begleitforschung zu den Arbeitsmarktinstrumenten zu berücksichtigen. Würde die Koalition sich an dieses Versprechen halten, dann müsste auch sie bei den 1-Euro-Jobs die Notbremse ziehen. Denn die Bilanz dieser Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung ist vernichtend: Arbeitgeber, die 1-Euro-Jobber einsetzten, entlassen öfter andere Arbeitnehmer und stellen seltener neu ein als Arbeitgeber, die das Instrument der 1-Euro-Jobs nicht nutzen. Und: Es lässt sich kein positiver Effekt der 1-Euro-Jobs auf die Chancen nachweisen, einen regulären Arbeitsplatz zu finden. Zu diesen Ergebnissen kommt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Zwei von drei 1-Euro-Jobs verstoßen sogar gegen die gesetzlichen Vorgaben, so der Bundesrechnungshof.
11. Selbst die besten Eingliederungshilfen müssen als Brücke im Nichts enden, wenn das rettende Ufer fehlt, weil der (regionale) Arbeitsmarkt nicht aufnahmefähig ist. Eine solche Situation wird aber im Jahr 2009 infolge des wirtschaftlichen Abschwungs und der Finanzmarktkrise eintreten. Wir fordern daher, die unmittelbar Beschäftigung schaffenden Instrumente quantitativ deutlich auszuweiten. Dabei darf dieser oftmals als „zweiter Arbeitsmarkt“ bezeichnete Sektor hinsichtlich Arbeitsinhalten und -bedingungen sowie der Entlohnung nicht länger „zweitklassig“ sein, sondern muss voll sozialversicherungspflichtige und mindestens existenzsichernde Arbeitsverhältnisse bieten.
Im Herbst 2007 hat auch die Bundesregierung zum ersten Mal ansatzweise eingeräumt, dass die ausschließliche Ausrichtung der Instrumente auf eine schnelle Integration in den ersten Arbeitsmarkt realitätsfern und nicht zielführend ist. Mit dem
„Kommunal-Kombi“ und der „Job-Perspektive“ (nach § 16a aF, jetzt § 16e SGB II) wurden zwei neue Programme eingeführt, die auf „Marktersatz“ und zusätzliche Beschäftigung für Erwerbslose abzielen. Diese beiden Instrumente orientieren sich zwar an einer tariflichen Entlohnung, haben aber auch erhebliche Konstruktionsfehler, die behoben werden müssen: Wir schlagen vor, beim „Kommunal-Kombi“ die Fördersumme zu erhöhen, da die Kommunen die bisher geforderte Ko-Finanzierung oftmals nich
- Über den Autor
- Letzte Beiträge des Autors