Wichtige Information zur Deckungslücke bei der Übernahme von Krankenversicherungskosten bei privat versicherten Leistungsberechtigten des SGB II und SGB XII (Hartz IV)
27.11.2010
Seit dem 1. Januar 2009 werden zuvor privat krankenversicherte Personen nicht mehr in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) pflichtversichert, wenn sie SGB II Leistungen (Hartz IV) beziehen. Auch eine freiwillige Versicherung in der GKV ist nicht möglich. Sie verbleiben in der privaten Krankenversicherung bzw. müssen von dieser wieder aufgenommen werden, wenn sie zuletzt privat krankenversichert waren. Ein anderer Versicherungsschutz ist nicht möglich. Als in der Regel günstigster Tarif ohne Selbstbeteiligung gilt der Basistarif, den die privaten Krankenversicherungen (PKV) seit 1. Januar 2009 anbieten müssen. Dieser Tarif ist auf den Höchstbeitrag in der GKV beschränkt, den gesetzlich Versicherte leisten müssen. Der Höchstbeitrag beträgt aktuell 558,75 €. Bei Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II oder des SGB XII müssen die privaten Versicherungen auf die Hälfte des Basistarifs verzichten.
Die tatsächlichen Kosten für die PKV betragen dann für Leistungsberechtigte des SGB II und des SGB XII ca. 280,- Euro.
An den Kosten der privaten Krankenversicherung beteiligt sich der SGB II-Träger in dem von § 26 Abs. 2 Nr. 1 SGB II n.F. i.V.m. § 12 Abs. 1c Satz 5-6 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG)vorgegebenen Umfang:
1. Wenn Hilfebedürftigkeit allein aufgrund des privaten Krankenkassenbeitrags besteht, wird er in voller Höhe übernommen (in der Praxis wichtig für Selbständige, die nur aufgrund der hohen Versicherungsbeiträge bedürftig werden).
2. Sofern unabhängig von der Höhe des Beitrags zur PKV Hilfebedürftigkeit besteht, zahlt der zuständige Träger bei Halbierung des PKV-Beitrages jedoch nur den Betrag, der auch für Personen, die Arbeitslosengeld II erhalten und in der GKV sind, zu tragen ist. (Dieselbe Regelung gilt gemäß § 26 Abs. 2 SGB II n.F. auch für versicherungsfreie Bezieher von Sozialgeld.) Dies sind zur Zeit ca. 130,- €.
SGB II oder SGB XII Leistungsbezieher/innen müssen demnach im häufigeren zweiten Fall 150,- € monatlich allein für die Krankenversicherung aufbringen. Dazu kommt eine, wenn auch kleinere, Deckungslücke bei der privaten Pflegeversicherung.
Dieses ist oftmals nicht möglich und auch nicht zumutbar. In der Regel entstehen Schulden bei der Versicherung. Trotz der Schulden ist die Versicherung verpflichtet, weiterhin die vollen Leistungen zu gewähren, solange Hilfebedürftigkeit im Sinnes des SGB II oder SGB XII besteht. Eine Aufrechnung der Schulden mit Erstattungsleistungen der Kasse sind angeblich (so z.T. die Rechtsprechung von Sozialgerichten) nicht statthaft. Ob diese (für die PKV nicht zuständige) Rechtsprechung die PKV bindet, ist allerdings strittig.
Darüber hinaus kann die PKV jederzeit Zwangsvollstreckungsmaßnahmen einleiten, die – auch wenn nichts zu pfänden ist – zu erheblichen Nachteilen für die Betroffenen werden (z.B. Schufa-Eintrag). Bei Überwindung der Hilfebedürftigkeit führen die Schulden allerdings dazu, dass die PKV nur noch absolut lebensnotwendige Leistungen gewährt.
Rechtslage
Viele Betroffene haben in Ihrer Not die Sozialgerichte angerufen, damit diese per einstweiliger gerichtlicher Anordnung den Leistungsträger verpflichten, die Krankenversicherungsbeiträge voll zu übernehmen. Dieses ist in vielen Fällen erstinstanzlich und auch auf der Ebene der Landesozialgerichte gescheitert. Die ablehnenden Gerichte behaupteten, dass keine akut zu behebende Notlage vorhanden sei, da das Auftürmen von Schulden bei der PKV nicht zu Nachteilen bei der medizinischen Versorgung führen würde. Die entstehenden Schulden seien kein Anordnungsgrund.
So argumentierend eine einstweilige Anordnung ablehnend z.B.:
L 7 AS 1453/09 B ER v. 25 März 2010 LSG Niedersachsen-Bremen
L 10 AS 817/10 B ER v. 02 Juni 2010 LSG Berlin (allerdings wurde der Prozesskostenhilfe zumindest zugestimmt, die das SG Berlin wg. offensichtlich fehlendem Anordnungsgrund abgelehnt hat)
L 19 AS 236/10 B v. 23 März 2010 LSG NRW
Eine einstweilige Anordnung dagegen erlassend:
L 15 AS 1048/09 B ER 03 Dezember 2009 LSG Niedersachsen-Bremen
S 9 AS 5003/09 ER 13 August 2009 SG Stuttgart
Kritisch ist hier anzumerken, dass die erstgenannten Gerichte vielfach den Anordnungsgrund aus abstrakt rechtlichen Gründen abgelehnt haben, ohne die tatsächliche Notlage zu berücksichtigen.
Mir selbst ist bekannt, dass private Krankenversicherungen eingereichte Arztrechnungen nicht erstattet haben, sondern den Erstattungsbetrag mit Beitragsschulden verrechnet haben. Dies mag nicht rechtens sein, aber was nützt dieses dem Betroffenen. Auch das Sozialgericht kann die PKV nicht verpflichten, auf die Aufrechnung zu verzichten. Der Zwang sich zu verschulden stellt ebenfalls eine Notlage dar. Ein jederzeit möglicher Schufa-Eintrag und die Ungewissheit, ob in Zukunft noch ein umfassender Krankenversicherungsschutz besteht, wirken in der Gegenwart.
Erfolg auf dem Klageweg!
Auf dem Klageweg waren bisher von der Deckungslücke Betroffene meines Wissens alle erfolgreich. Da die negative Regelung erst zum 1 Januar 2009 in Kraft trat, gab es bisher noch nicht viele erledigte Klagen. Insbesondere gibt es auch keine rechtskräftigen Urteile, da die Leistungsträger bisher immer in die Berufung bzw. Revision gegangen sind. Zwei Verfahren sind mittlerweile beim Bundessozialgericht anhängig. Eine Sprungrevision B 14 AS 36/10 R des SG Stuttgart (SG Stuttgart, S 9 AS 5449/09) und ein Revisionsverfahren B 4 AS 108/10 R, Vorinstanz LSG Saarbrücken, L 9 AS 15/09.
Im Bereich des SGB XII hat nun auch ein Sozialgericht den Leistungsträger zur Übernahme der vollen Kosten der PKV verurteilt:
SG Mannheim vom 12 Juli 2010, 9 Kammer, – S 9 SO 1354/10
Das SG Mannheim argumentiert hier mit dem BVerfG – Urteil vom 9 Februar 2010: „Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 9 Feb. 2010 (1 BvL 1/09) ist für eine Übergangszeit abzuleiten, dass die Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung nach § 32 Abs. 5 SGB XII zumindest in Höhe des vollen Basistarifes zu übernehmen sind. § 12 Abs. 1 c VAG steht dem nicht entgegen.” (aus der Begründung)
Was sollten Betroffene tun?
Rechte wahren! Wenn das Bundessozialgericht sich der Mehrheit der bisherigen Urteile anschließt, bedeutet dies, dass die Leistungsträger die vollen Kosten der privaten Krankenversicherung übernehmen müssen.
Was geschieht aber mit den Schulden aus der Vergangenheit?
Im SGB II: Im § 40 SGB II wird auf § 330 SGB III verwiesen, der damit auch für das SGB II gilt. Dieser regelt, dass eine Überprüfung und Korrektur für Zeiträume der Vergangenheit (§ 44 SGB X) bei einer der Verwaltungspraxis widersprechenden höchstrichterlichen Rechtsprechung nur dann vorgenommen wird, wenn die Bescheide über die vergangenen Zeiträume (vor der Rechtsprechung) noch anfechtbar sind.
Kurz: Überprüfungsanträge und Widersprüche müssen vor der Entscheidung des BSG erfolgen. Der genannte § 330 SGB III Abs. 1 lautet:
„(1) Liegen die in § 44 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vor, weil er auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsaktes für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt oder in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden ist, so ist der Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen.”
Diese Unanfechtbarkeit kann durch rechtzeitiges Stellen von Überprüfungsanträgen und Widersprüchen verhindert werden. Wichtig ist es hier natürlich, bei ablehnenden Bescheiden Widersprüche einzulegen bzw. zu klagen. Klagen können mit dem Verweis auf das anstehende BSG-Verfahren auf Antrag auch ruhend gestellt werden.
Im SGB XII
Oben genannte Sonderregelung zur eingeschränkten Anwendbarkeit des § 44 SGB X existiert für das SGB XII nicht. Allerdings sind hier andere Regelungen zu beachten. Bei vorliegender Rechtswidrigkeit wird Hilfe für vergangene Notlagen nur dann geleistet, wenn weiterhin Bedürftigkeit vorliegt und die vergangene Notlage in die Gegenwart wirkt. Dies ist bei Schulden, die auf die genannte Deckungslücke zurück gehen, sicherlich der Fall. (Für Interessierte: ausführlich zur Abkehr des BSG von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich der Anwendbarkeit des § 44 SGB X vgl. Bundessozialgericht Urteil vom 26 August .2008, B 8 SO 26/07 R und Urteil – vom 29 September 2009 – B 8 SO 16/08 R)
Aus diesem Grund empfehle ich auch allen SGB XII Leistungsbezieher/innen, die von der Deckungslücke betroffen sind, ebenfalls sofort Überprüfungsanträge zu stellen bzw. Widersprüche gegen aktuelle Bescheide einzulegen. Um Bescheide zu erhalten, kann die vollständige Übernahme der Krankenversicherungskosten beantragt werden.
Wichtig für SGB XII Leistungsbezieher/innen: Die Schulden bei der PKV nicht durch Privatdarlehen begleichen oder sich die Deckungslücke vom Munde absparen. Die Schulden bei der PKV dürfen nicht zu Leistungsbeschränkungen beim Krankenversicherungsschutz führen. Die PKV kann darüber informiert werden, dass der Rechtsweg zur Übernahme der vollen Kosten beschritten wird.
Krankenversicherungsschutz sicher stellen!
Manche private Krankenversicherungen drohen mit der Beschränkung des Leistungsanspruchs beim Krankheitsfall. Andere private Versicherungen erstatten nicht die eingereichten Rechnungen, sondern verrechnen diese Ansprüche mit Beitragsschulden. Sogar direkt von Ärzten eingereichte Rechnungen wurden in einem mir bekannten Fall mit dem Verweis auf die Schulden vorerst nicht beglichen. Erst die Androhung rechtlicher Schritte veranlasste die Versicherung zu zahlen.
Da ich kein Rechtsexperte im privaten Krankenversicherungsrecht bin, zitiere ich im Folgenden das Argumentationsmuster in den Worten des LSG Saarbrücken, in dem dargestellt wird, dass trotz hoher Schulden die Versicherung voll leisten muss, solange Hilfebedürftigkeit vorliegt.
„Der Staat erfülle seinen Schutzauftrag aus Art. 1 und Art. 20 GG hier ausreichend dadurch, dass er den privaten Versicherungsunternehmen in § 193 VVG die Pflicht auferlege, hilfebedürftigen Versicherten auch dann vollen Versicherungsschutz zu gewähren, wenn sie die PKV-Beiträge nur in Höhe des nach § 26 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB II gewährten Zuschusses entrichteten. Würden die Versicherten in den Basistarif wechseln, worauf sie einen Anspruch hätten, seien die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigung nach § 75 Abs. 3a Satz 1 SGB V zur Sicherstellung der Behandlung verpflichtet, im Gegenzug würden die Leistungserbringer (Ärzte und Krankenhäuser) nach § 192 Abs. 7 VVG einen Vergütungsanspruch erlangen, den sie direkt gegen das Versicherungsunternehmen geltend machen könnten. Der im Basistarif Versicherte sei also nicht zwingend auf das Kostenerstattungsverfahren angewiesen, womit eine unzulässige Aufrechnung auf die Beitragsansprüche mit Erstattungsansprüchen von vorneherein ausscheide. Im Übrigen sei eine solche Aufrechnung auch im Normaltarif eine unzulässige Umgehung der Schutzregelung aus § 193 Abs. 6 Satz 5 VVG.” (zitiert nach LSG Saarbrücken Urteil vom 13.4.2010, L 9 AS 15/09; das Gericht verneint allerdings, dass somit der grundgesetzliche Schutzauftrag erfüllt sei.) Nochmals: Wichtig ist, dass Betroffene jetzt handeln und nicht warten bis das BSG entschieden hat!
(Quelle: Fortbildungen für die sozialpädagogische Beratung Martina Beckhäuser und Bernd Eckhardt)
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