Die Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD will seit Mai 2025 „spürbare Arbeitsanreize“ für Bürgergeld-, Wohngeld- und Kinderzuschlag-Haushalte schaffen. Ein Blick in die frischen Modellrechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt jedoch:
Für jedes gelöste Problem tauchen zwei neue auf. Wer heute wenig verdient, könnte morgen draufzahlen; wer auf Entlastung hofft, muss sich auf lange Debatten einstellen.
Inhaltsverzeichnis
Kurze Lagebeschreibung
Im aktuellen System kassieren Jobcenter und Wohngeldstellen bis zu 100 Euro, wenn Leistungsbeziehende nur 130 Euro zusätzlich verdienen. Am Monatsende bleiben kaum 30 Cent pro Extra-Euro übrig. Die Koalition erkennt das Dilemma und verspricht, Transferentzugsraten zu senken, Freibeträge neu zu ordnen und Leistungen besser abzustimmen.
Reformziele der Koalition 2025
Der Koalitionsvertrag nennt drei Hebel. Erstens sollen konstante, niedrigere Entzugsraten gelten, damit jeder Zusatz-Euro sichtbar in der Haushaltskasse landet. Zweitens will die Regierung Wohngeld und Kinderzuschlag verzahnen und digitale Anträge einführen. Drittens plant sie, Minijobs strenger anzurechnen, um reguläre Teil- oder Vollzeit attraktiver zu machen. Soweit die Theorie.
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Warum das bestehende System bremst
Die Verrechnung von Einkommen gleicht einem Flickenteppich. Für das Bürgergeld gilt ein gestaffelter Selbstbehalt: 100 Euro bleiben immer anrechnungsfrei, dann folgen Stufen mit 20, 30 oder 40 Prozent Entzug. Wer Wohn- oder Kinderzuschlag bezieht, verliert parallel weitere Anteile.
Das bedeutet: Ein Drei-Personen-Haushalt, der den Lohn von 1 200 auf 1 600 Euro brutto steigert, gewinnt oft weniger als 70 Euro netto. Kaum jemand verlängert für diese Summe die Schicht.
Das IAB testet 54 Reformvarianten
Um die Wirkung neuer Regeln zu prüfen, kombinierten die Forscher sechs Reformelemente in 54 Szenarien. Sie setzten konstante Entzugsraten von 70, 75 oder 80 Prozent im Bürgergeld, variierten Grundfreibeträge (0; 50 + 100; 100 Euro) und rechneten Minijobs entweder gleich oder mit 90 Prozent an.
Hinzu kam eine höhere Anrechnungsrate beim Kinderzuschlag (45 oder 70 Prozent) sowie zwei Versionen der Wohngeldformel. Alle Berechnungen stützen sich auf das Mikrosimulationsmodell IAB-MSM und SOEP-Daten mit Rechtsstand 1. Januar 2024.
Zwei Pole: „großzügig“ gegen „beschränkend“
Aus der ganzen Palette ragen zwei Extreme heraus. Szenario A, das großzügige, senkt Entzugsraten breit und garantiert, dass kein Haushalt weniger Geld hat als heute. Szenario B, das beschränkende, kürzt den Grundfreibetrag, behandelt Minijobs strenger und lässt Wohngeld langsamer steigen.
Ergebnis: Im Beispiel einer vierköpfigen Familie liegt der verfügbare Betrag in Variante A stets mindestens auf Status-quo-Niveau, kostet den Staat aber rund fünf Milliarden Euro pro Jahr. Variante B spart fast sechs Milliarden, verschlechtert kurzfristig allerdings Einkommen kleiner Beschäftigungsumfänge.
Arbeitsmarkt-Effekte bleiben überschaubar
Keine der 54 Optionen löst den Fachkräftemangel, doch alle vergrößern das Arbeitsangebot leicht. Je nach Modell entstehen 70 000 bis 170 000 Vollzeitäquivalente. Das entspricht höchstens 0,6 Prozent zusätzlicher Wochenstunden.
Größere Effekte erzielt man, sobald hohe Einkommen geringer belastet werden und Minijobs stärker. Diese Kombination erhöht laut Simulation die durchschnittliche Arbeitszeit um 0,4 Stunden je Erwerbstätigem in der Zielgruppe.
Staatsfinanzen: Von Sparpaket bis Kostenexplosion
Die fiskalische Bandbreite reicht von sechs Milliarden Euro Einsparung bis zu fünf Milliarden Mehrausgaben jährlich. Beschränkende Szenarien entlasten den Bundeshaushalt, weil mehr Haushalte das Bürgergeld verlassen oder geringere Leistungen beziehen. Großzügige Szenarien dagegen verteilen Leistungsausgaben breiter und treiben die Kosten nach oben. Für die Große Koalition steht deshalb die Kernfrage: Ist ein spürbarer Arbeitsanreiz ohne höhere Sozialausgaben überhaupt erreichbar?
Wohngeld-Boom als Nebenwirkung
Eine Absenkung der Transferentzugsraten verlagert Ansprüche. In fast allen Szenarien sinkt die Zahl der Bürgergeld-Haushalte, teils um 400 000 Fälle. Gleichzeitig wachsen die Wohngeld- und Kinderzuschlag-Bestände um bis zu 1,2 Millionen. Weil Wohngeld kommunal kofinanziert wird, verschiebt der Bund einen Teil der Last auf Städte und Kreise. Die Koalition erwägt daher, den generellen Wohngeldsatz zu senken, doch das würde speziell in Hoch-Miet-Regionen die Wohnkostenlücke vergrößern.
Wer gewinnt, wer verliert?
Kurzfristige Verlierer sind Haushalte, die heute bereits kleine Nebenjobs ausüben. Werden ihre geringen Verdienste stärker angerechnet, können ihnen monatlich 40 bis 80 Euro fehlen. Langfristig profitieren sie erst, wenn sie die Arbeitszeit klar ausweiten.
Familien mit mittleren Einkommen gewinnen in großzügigen Szenarien: Ihre Kinderzuschlag-Ansprüche reichen höher hinauf. In beschränkenden Szenarien sinkt dieser Vorteil. Ältere Aufstockende mit eingeschränktem Stundenpotenzial laufen Gefahr, dauerhaft weniger zu erhalten, weil sie die notwendige Mehrarbeit kaum leisten können.
Vier große Zielkonflikte
Erstens: Weniger Entzugsrate bedeutet tendenziell mehr Staatsausgaben. Zweitens: Kürzt man Freibeträge, spart der Fiskus, doch niedrige Löhne verlieren. Drittens: Senkt man die Rate im ganzen System, rutschen Millionen ins Wohngeld, was Kommunen belastet. Viertens: Bleibt man bei hohen Entzugsraten, verpufft der Arbeitsanreiz. Keine Variante erfüllt alle vier Ziele gleichzeitig.
Welche Spielräume bleiben der Regierung?
Die Koalition kann 1) eine moderate Entzugsrate wählen und gleichzeitig den Wohngeld-Parameter senken, um Zusatzkosten zu dämpfen, 2) eine Stufe für Minijobs einführen, die nach sechs Monaten automatisch sinkt, oder 3) Freibeträge zeitlich begrenzen, damit Haushalte schrittweise in den niedrigeren Satz wechseln. Keine dieser Optionen kommt ohne Kompromiss aus. Wer sparen will, verschärft Härten; wer Härten lindert, benötigt neue Einnahmequellen.
Die Bilanz
Die neue Koalition verspricht, dass sich die Arbeit wieder lohnt. IAB-Zahlen zeigen jedoch: Der Effekt bleibt klein, während Kostenrisiken hochschnellen oder Einkommensverluste drohen. Ohne einen substanziellen Abbau der Niedriglöhne oder eine breitere Steuer- und Beitragsreform wird jede Änderung an den Hinzuverdienst-Regeln zum Nullsummenspiel.
Am Ende könnten Bund und Länder Geld verschieben, statt Armut zu mindern und Fachkräfte zu gewinnen. Die Diskussion geht weiter, doch die Betroffenen brauchen jetzt Klarheit, nicht nur neue Rechenmodelle.