Wer Bürgergeld bezieht, muss sich bestimmten Regeln beugen, um nicht Leistungskürzungen oder gar Leistungseinstellungen zu erleiden. Wer kaum mehr Arbeitsfähig ist, fragt sich vielleicht, ob man eine Überprüfung der Arbeitsfähigkeit auch selbst einleiten kann, um in die Sozialhilfe nach SGB XII zu wechseln. Diese und weitere Fragen erläutern wir in diesem Beitrag.
Was unterscheidet Bürgergeld und Grundsicherung wirklich?
Das Bürgergeld ist die Grundsicherung für erwerbsfähige Personen. Wer laut Gesetz noch arbeitsfähig ist – selbst wenn nur drei Stunden pro Tag – landet im SGB II-System.
Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung dagegen richtet sich an Menschen, die medizinisch dauerhaft unter dieser Schwelle liegen. Beide Leistungen sollen das soziokulturelle Existenzminimum sichern, doch es gibt Unterschiede:
Pflichten und Sanktionen: Im Bürgergeld können bei fehlender Mitwirkung Leistungskürzungen von bis zu 30 Prozent eintreten; in der Grundsicherung sind Sanktionen praktisch ausgeschlossen.
Vermittlungsdruck: Bürgergeld-Empfangende unterliegen Eingliederungsvereinbarungen, Vermittlungsvorschlägen und unter Umständen Qualifizierungsmaßnahmen. In der Grundsicherung entfällt dieser arbeitsmarktpolitische Druck, weil Arbeitsvermittlung gerade nicht mehr Ziel des Gesetzes ist.
Zuständigkeit: Jobcenter (kommunale Träger oder Arbeitsagenturen) bearbeiten SGB II-Fälle, während Grundsicherungsämter oder Sozialämter für SGB XII zuständig sind.
Regelsatz-Höhe: Die Regelsätze sind formal identisch; Unterschiede ergeben sich nur aus Zu- und Abschlägen (etwa Mehrbedarfe oder Sanktionen)
Wie wird die Erwerbsfähigkeit offiziell festgestellt?
Rechtliche Leitplanke ist § 44a SGB II. Stellt das Jobcenter Zweifel an der Erwerbsfähigkeit fest – spätestens nach sechs Monaten ununterbrochener Arbeitsunfähigkeit –, muss es ein sozialmedizinisches Gutachten beim zuständigen Träger der Deutschen Rentenversicherung (DRV) in Auftrag geben.
Die DRV schaltet hierzu ihren Ärztlichen Dienst oder den Medizinischen Dienst der Krankenkassen ein, der anhand ärztlicher Unterlagen und gegebenenfalls einer körperlichen Untersuchung beurteilt, ob volle, teilweise oder keine Erwerbsminderung vorliegt.
Wer kann die Prüfung anstoßen – und wie gelingt das in der Praxis?
Betroffene können die Begutachtung nicht direkt bei der DRV beantragen; der Auftrag muss aus dem Jobcenter kommen.
Wer merkt, dass die eigene gesundheitliche Leistungsfähigkeit dauerhaft unter drei Stunden täglich liegt, kann allerdings einen förmlichen Antrag beim Jobcenter stellen, die Erwerbsfähigkeit zu überprüfen.
Erfolgt innerhalb einer angemessenen Frist keine Reaktion, eröffnet dieser Antrag den Rechtsweg – bis hin zur Sozialgerichtklage. Auch neu angemeldete Leistungsberechtigte können bereits in der Eingangszone auf gravierende gesundheitliche Einschränkungen verweisen und den Gesundheitsfragebogen verlangen.
Welche Dokumente werden verlangt – und welche Daten müssen Betroffene preisgeben?
Mit dem Prüfverfahren erhalten Leistungsberechtigte in der Regel
1. einen Gesundheitsfragebogen,
2. eine Schweigepflichtentbindung,
3. ein Informationsblatt und
4. einen adressierten Umschlag.
Das Ausfüllen des Fragebogens und das Unterschreiben der Schweigepflichtentbindung sind freiwillig.
Wer seine Gesundheitsdaten schützen möchte, kann stattdessen aktuelle Befunde in Kopie beifügen oder auf ein persönliches Gespräch beim Ärztlichen Dienst verweisen. Empfehlenswert ist, den verschlossenen Umschlag nicht über das Jobcenter, sondern direkt an den Ärztlichen Dienst zu senden – die Adresse muss das Jobcenter auf Anfrage herausgeben.
Die ärztliche Untersuchung selbst ist hingegen verpflichtend; ein Nichterscheinen gilt als fehlende Mitwirkung und kann zum vorübergehenden Leistungsstopp führen.
Grundsicherung versus Bürgergeld? Was ist anders?
Viele Langzeitkranke berichten, dass der Wechsel in die Grundsicherung ihre Lebensqualität spürbar verbessert: kein Vermittlungsdruck, keine Sanktionsandrohung, keine Meldepflichten bei jedem Umzug, dafür das gleiche Existenzminimum.
Gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Depression oder Angststörung bedeutet der Wegfall des Jobcenterstresses oft eine Stabilisierung.
Hinzu kommt, dass während des laufenden Prüfverfahrens die Leistungsfähigkeit noch ungeklärt ist – ein Zeitraum, der in der Praxis manchmal Jahre dauert. Solange kein abschließendes Gutachten vorliegt, können Jobcenter keine Maßnahmen oder Arbeitsangebote erzwingen.
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Welche Risiken birgt der Weg in die Erwerbsunfähigkeit?
Die Entscheidung ist nicht ohne Fallstricke!
Finanzielle Durststrecken: Bis zur endgültigen Anerkennung kann es zu Verzögerungen kommen, in denen unklar ist, ob Bürgergeld, Grundsicherung oder Übergangsgeld gezahlt wird.
Rentenversicherungsrecht: Eine volle Erwerbsminderungsrente erhält nur, wer die versicherungsrechtlichen Vorversicherungszeiten erfüllt. Fehlt dieser Anspruch, bleibt zwar Grundsicherung, aber die Rentenbeiträge entfallen und die Altersrente steigt nicht.
Rückforderungsrisiken: Wer später demonstriert, deutlich mehr als drei Stunden täglich arbeiten zu können, muss – wie ein prominenter Fall vor Augen führt – unter Umständen Erwerbsminderungsrente und sogar Krankenkassenbeiträge erstatten. Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit genügt zur Rückforderung.
Wie realistisch ist eine Rückkehr in die Erwerbsfähigkeit?
Rein rechtlich kann jede*r jederzeit seine Erwerbsfähigkeit „zurückerobern“. Praktisch bedeutet das, einen Job nachzuweisen, in dem die tägliche Arbeitszeit über der Drei-Stunden-Grenze liegt. Sobald das Beschäftigungsverhältnis belegt ist, prüfen DRV oder Sozialamt, ob die Anerkennung der vollen Erwerbsminderung entfallen muss.
Das kann – positiv wie negativ – erhebliche finanzielle Folgen haben. Wer auf Nummer sicher gehen will, sollte eine geplante Rückkehr immer zuerst mit einem Fachanwalt für Sozialrecht besprechen und alle Stellen (Sozialamt, DRV, Krankenkasse) bevor der erste Lohn fließt schriftlich informieren.
Und die Rentenversicherung und Krankenkassen?
Die DRV ist Gutachterin und – sofern versicherungsrechtliche Voraussetzungen vorliegen – Zahlstelle der Erwerbsminderungsrente. Besteht kein Rentenanspruch, bleibt das Jobcenter zunächst zuständig; nach Anerkennung dauerhafter voller Erwerbsminderung übernimmt das Sozialamt die Grundsicherung.
Die Krankenkassen beteiligen sich über den Medizinischen Dienst an der Begutachtung. Arbeitnehmer, die Krankengeld beziehen, erleben deshalb oft ein paralleles Prüfverfahren: Die Krankenkasse will wissen, ob Reha „vor Rente“ möglich ist, während das Jobcenter schon an die Grundsicherung denkt.
Wo finden Betroffene Unterstützung und Beratung?
Unabhängige Hilfe leisten Sozialverbände wie VdK oder SoVD, die für Mitglieder Widersprüche führen und beim Ausfüllen von Formularen helfen. Kommunale „Erwerbslosenberatungen“ wie Tacheles e.V. oder spezialisierte Anwaltskanzleien bieten kostenfreie oder kostengedeckelte Erstberatungen.
Wer bereits weiß, dass eine dauerhafte Erwerbsminderung wahrscheinlich ist, kann sich von einem Rentenberater begleiten lassen; viele Gemeinden stellen ehrenamtliche Berater zur Verfügung.
Welche offenen Fragen bleiben?
Trotz dutzender Verwaltungsvorschriften und Gerichtsurteile gibt es Grauzonen: Wie werden zum Beispiel Sanktionen im Bürgergeld langfristig ausgestaltet? Bekommen Menschen ohne Rentenanspruch in der Grundsicherung dieselben Mehrbedarfe wie Rentenempfänger? Und wie werden Datenschutzrechte in Zeiten digitaler Akten künftig garantiert? Der Gesetzgeber diskutiert Änderungen, die Koalition ist sich aber nicht einig.
Fazit: Die Entscheidung, eine Prüfung der Erwerbsfähigkeit selbst anzustoßen, kann Betroffenen Jahre der Ruhe und Planungssicherheit bringen – oder sie in ein langwieriges Verfahren voller Unwägbarkeiten führen.
Wer den Schritt erwägt, sollte seine ärztlichen Befunde ordnen, sich unabhängige Beratung sichern und jeden Kontakt mit dem Jobcenter schriftlich dokumentieren.
Denn am Ende entscheidet nicht nur die medizinische Diagnose, sondern auch die korrekte Verfahrensführung darüber, ob die Grundsicherung zum rettenden Netz oder zur rechtlichen Sackgasse wird.