Bürgergeld-Bezieherin pflegt ihre Mutter mit Pflegegrad 3: Jobcenter droht mit scharfen Sanktionen

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K. betreut ihre hochbetagte Mutter seit sechs Jahren in der gemeinsamen Wohnung. Die Pflegeversicherung hat Pflegegrad 3 festgestellt; die AOK bescheinigt einen „Rund-um-die-Uhr-Betreuungsbedarf“.

Dennoch verlangt das zuständige Jobcenter neuerdings, K. solle sich für täglich sechs Stunden Erwerbsarbeit bereithalten und dafür pauschal ihre Schweigepflicht gegenüber mehreren behandelnden Ärzten aufheben.

K. fürchtet Bürgergeld-Leistungen zu verlieren, obwohl sie die Pflege ihrer Mutter allein stemmt und selbst an einer Autoimmunerkrankung leidet. Der Berliner Verein Sanktionsfrei e. V. hat den Fall publik gemacht und spricht von einem „Kollisionskurs zwischen Pflegewirklichkeit und Behördendogma“.

Immer mehr Menschen werden gepflegt

Rund vier von fünf Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause versorgt, zumeist durch Angehörige; nur rund ein Fünftel lebt in Heimen.

Dass private Sorgearbeit ganze Pflegesysteme entlastet, zeigen auch Zahlen des AOK-WIdO-Monitors: Hauptpflegepersonen wenden durchschnittlich 49 Stunden pro Woche auf; fast jede vierte Person zwischen 18 und 65 Jahren hat dafür die Erwerbsarbeit reduziert oder ganz aufgegeben.

Was bedeutet Pflegegrad 3 konkret – und warum genügt Ersatzpflege nicht?

Pflegegrad 3 steht für eine „schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“.

Anspruch besteht zwar auf Verhinderungspflege, doch die Pflegekasse finanziert eine Ersatzkraft höchstens sechs Wochen pro Jahr – aktuell 1 685 Euro, erweiterbar auf 2 528 Euro, wenn ungenutzte Kurzzeitpflege-Mittel umgewidmet werden.

Rechnet man das auf einen Ganzjahresbedarf hoch, klafft eine Finanzierungslücke, die weder das Pflegegeld von 545 Euro monatlich noch der Entlastungsbetrag von 131 Euro schließen. Für K. würde eine dauerhaft angestellte Fachkraft deutlich teurer als ein Mindestlohnjob sein, sodass Erwerbsarbeit die Pflege nicht ersetzt, sondern verunmöglicht.

Warum fordert das Jobcenter trotzdem sechs Stunden Arbeitsverfügbarkeit?

Für erwerbsfähige Leistungsberechtigte im Bürgergeldsystem gilt der Grundsatz, dass jede Arbeit zumutbar ist, sofern kein „wichtiger Grund“ entgegensteht. Pflege gilt zwar als wichtiger Grund, aber nur, wenn die Betreuungsaufgaben weniger als drei Stunden täglicher Arbeitsaufnahme erlauben.

Seit der jüngsten Regierungsinitiative zur „Aktivierung der Arbeitslosenreserve“ gilt zusätzlich: Wer eine zumutbare Beschäftigung ablehnt, muss ab 1. Januar 2025 mit einer pauschalen Kürzung von 30 Prozent für drei Monate rechnen; schon ein versäumter Meldetermin kann ein solches Minus auslösen.

K. befürchtet deshalb eine Sanktion, obwohl ihr Pflegeeinsatz objektiv Vollzeit entspricht.

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Sind Schweigepflichtentbindungen zulässig – oder eine Grenzüberschreitung?

Jobcenter dürfen Atteste anfordern, um die Erwerbsfähigkeit einzuschätzen. Dass Leistungsberechtigte pauschal sämtliche Arzt- und Therapiedaten freigeben müssen, ist jedoch juristisch umstritten; Datenschützer sehen darin einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.

In der Praxis wird häufig versucht, über weit gefasste Entbindungen psychische Belastungen, Diagnosen und Therapien abzufragen – ein Vorgehen, das Fachanwältinnen für Sozialrecht immer wieder vor Sozialgerichte tragen.

Der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt kommentiert, dass Fälle wie der von K. derzeit zunehmen, weil Jobcenter ihre Kontrollen verschärfen, um das neue Sanktionsregime vorzubereiten. “Um in Eilverfahren die Pflege von Angehörigen gegen Kürzungen zu verteidigen, seien schnelle Liquidität und Rechtsbeistand entscheidend”, so Anhalt.

Pflege- und Sozialverbände verlangen seit Langem eine bessere Verzahnung von Bürgergeld- und Pflegegesetzen. Eine Forderung lautet, pflegende Hauptangehörige automatisch als „nicht voll erwerbsfähig“ einzustufen, solange sie mehr als 30 Stunden wöchentlich pflegen. Parallel wird diskutiert, die Verhinderungspflege ab Juli 2025 flexibler zu gestalten – dann sollen bis zu 3 539 Euro pro Jahr für Kurz- und Verhinderungspflege zusammengelegt werden.

Ob das genügt, bleibt offen: Eine Ersatzpflege für nur acht Wochen löst keine 52-Wochen-Aufgabe.

Und K.?

Noch hat das Jobcenter keine Kürzung ausgesprochen. Doch der Druck ist real, sagt K., die „kurz vorm Burn-out“ steht. Ihr Fall zeigt exemplarisch, wie zwei Sozialsysteme – Grundsicherung und Pflegeversicherung – an ihren Schnittstellen scheitern.

Was bleibt, ist eine pflegende Angehörige, der man gleichzeitig bescheinigt, Unersetzbares zu leisten, und zugleich vorwirft, „dem Arbeitsmarkt nicht ausreichend zur Verfügung zu stehen“. Dass dieser Widerspruch aufgelöst wird, ist nicht nur im Interesse von K. und ihrer Mutter, sondern auch im Interesse eines Staates, der ohne die Milliardenstunden unbezahlter Sorgearbeit längst kollabieren würde.

Solange Pflege in den eigenen vier Wänden als private Familienangelegenheit gilt, aber Jobcenter Leistungsberechtigte wie Arbeitsuchende behandeln, stehen Betroffene zwischen Fürsorgepflicht und Sanktionendrohung.

Der Fall K. macht deutlich: Wer den Fachkräftemangel in der Pflege beklagt und gleichzeitig pflegende Angehörige mit Kürzungen bedroht, riskiert, die stillen Stützen des Systems zu verlieren. Ein sozialpolitischer Spagat, der sich mit Verweis auf formale Zuständigkeiten nicht länger rechtfertigen lässt.