Eine Gewährung des Merkzeichens G kann auch ohne mobilitätsbezogenen GdB von 50 erfolgen. Dies gibt gerade aktuell der Rechtsanwalt der Klägerin Helge Hildebrandt aus Kiel bekannt.
Er schreibt dazu folgendes:
“Das Merkzeichen G, welches bei einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr zuerkannt wird und neben Vergünstigungen bei der Nutzung des ÖPNV auch zu einem Mehrbedarfsanspruch von 17 % beim Bürgergeld (§ 23 Nr. 4 SGB II) und der Altersgrundsicherung (§ 30 Abs. 1 SGB XII) führt, setzte bereits nach dem klaren Wortlaut der Versorgungsmedizin-Verordnung (Teil D 1.) keine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung mit einem GdB von 50 voraus.” Das habe aktuell das SG Kiel ,Urteil vom 25.04.2024 – S 15 SB 130/20 – entschieden.
Nach Auffassung des RA Hildebrandt leidet die Klägerin bereits seit langer Zeit an dissoziativen Lähmungserscheinungen, welche auf einer psychischen Erkrankung beruhen und temporär zu einem partiellen oder vollständigen Verlust der Kontrolle ihrer Körperbewegungen führen.
Den Antrag der Klägerin auf die Zuerkennung des Merkzeichens G hatte das Landesamt für soziale Dienste Schleswig-Holstein mit der – knappen – Begründung abgelehnt.
Bei der Klägerin sei eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung mit einem GbB von 50 bei sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendewirbelsäule nicht nachgewiesen.
Landesamt missachtet Hinweis des Gerichts
Obwohl das Gericht das Landesamt – was bedauerlicherweise notwendig war – in der mündlichen Verhandlung nachdrücklich darauf hinwies, dass in der VersMedV (Teil D 1.) ein mobilitätsbezogener GbB von 50 gar nicht gefordert wird, und nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch bei Zusammenwirken von orthopädischen und psychischen Gesundheitsstörungen das Merkzeichen G festgestellt werden kann.
Landesamt wollte trotz eindeutigen Hinweises des Gerichts kein Anerkenntnis geben
Selbst wenn die orthopädische Gesundheitsstörung den in Teil D d) der VersMedV geforderten GdB von 40 nicht erreicht, sah sich das Landesamt nicht zu einem Klageanerkenntnis imstande und musste antragsgemäß verurteilt werden, das Vorliegenden der Voraussetzungen des Merkzeichens G bei der Klägerin festzustellen.
Betroffenen rät RA Helge Hildebrandt aus Kiel, Bescheide des Landesamts für soziale Dienste Schleswig-Holstein fachkundig prüfen zu lassen, da teilweise nicht einmal mehr das geltende Recht richtig angewendet wird.
Erstveröffentlichung in HEMPELS 7/2024, Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Anmerkung von Detlef Brock
Zitat aus dem Urteil des SG Kiel:
“So hat auch der 9. Senat des BSG am 11. August 2015 (B 9 SB 1/14 R, s. auch Urteil vom 22. November 2023, B 9 SB 18/23 B) entschieden,
dass der umfassende Behindertenbegriff des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX es im Lichte des verfassungsrechtlichen als auch des unmittelbar anwendbaren UN-konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbotes (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 2 UnBehRÜbk) die Einbeziehung aller körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen umfasst.
Einen Anspruch auf Merkzeichen G habe deshalb auch ein schwerbehinderter Mensch, der nach Prüfung des einzelnen Falles aufgrund anderer Erkrankungen als den in Teil D Nr. 1 Buchstabe d bis f der Anlage zu § 2 VersMedV genannten Regelfällen dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis mit gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion gleichzustellen seien und auch psychische Gehstörungen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen können.
Teil D Nr. 1 der Anlage zur Versorgungsmedizinverordnung enthalte keine abschließende Listung in Betracht kommender Behinderungen aus dem Formenkreis einzelner medizinischer Fachrichtungen, sondern erfasse auch psychische Behinderungen.”
Fazit
Psychische Gehstörungen können zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen, auch wenn sie Anfallsleiden oder Orientierungsstörungen nicht gleichzusetzen sind ( BSG B 9 SB 1/14 R )
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