Viele Versicherte stellen sich die gleiche Frage: Kann eine Rente wegen Erwerbsminderung bereits mit 63 Jahren ohne Kürzungen in Anspruch genommen werden?
Die Antwort ist einfach: Ja, unter bestimmten Voraussetzungen ist eine abschlagsfreie EM-Rente ab 63 möglich. Entscheidend ist aber der sogenannte Zugangsfaktor aus § 77 SGB VI – und eine gesetzliche Ausnahme für besonders langjährig Versicherte im Sinne des § 77 Absatz 4 SGB VI.
Zusätzlich wirken seit der Reform der Zurechnungszeiten fiktive Zeiten bis zur Regelaltersgrenze rentensteigernd.
Wer später von der EM-Rente in eine Altersrente wechselt, profitiert zudem häufig weiter, weil der Besitzschutz nach § 88 SGB VI ein Absinken des Zahlbetrags verhindert. Im Zusammenspiel entsteht so für viele Betroffene ein spürbarer „Rentenbooster“, wie der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt bestätigt.
Inhaltsverzeichnis
Zugangsfaktor entscheidet über Abschläge
Der Zugangsfaktor ist der Dreh- und Angelpunkt jeder Rentenberechnung. Er gibt an, ob die erworbenen Entgeltpunkte ungemindert in die Rente eingehen oder wegen eines vorzeitigen Rentenbeginns gekürzt werden.
Für EM-Renten regelt § 77 Absatz 2 SGB VI die Grundlogik: Beginnt die Rente vor einem bestimmten Lebensalter, sinkt der Zugangsfaktor je Kalendermonat des Vorziehens um 0,003.
Daraus ergibt sich eine Kürzung von 0,3 Prozent je Monat, maximal 10,8 Prozent. Beginn eine EM-Rente beispielsweise 36 Monate vor dem maßgeblichen Alter, wird der Höchstabschlag erreicht.
Diese Minderung wirkt dauerhaft für die gesamte Laufzeit der EM-Rente und – ohne weitere Schutzmechanismen – auch über einen späteren Rentenartwechsel hinaus.
Abschlagsfreiheit ab 63 nach § 77 Absatz 4 SGB VI
Von dieser Grundregel gibt es eine sozialpolitisch gewollte Begünstigung. § 77 Absatz 4 SGB VI verschiebt für Versicherte mit langem Versicherungsleben die maßgeblichen Altersgrenzen um zwei Jahre nach vorn. Voraussetzung ist, dass die EM-Rente „auf mindestens 40 Versicherungsjahren“ im Sinne der anrechenbaren Zeiten nach §§ 51 und 52 SGB VI beruht.
Dazu zählen vor allem Beitragszeiten, bestimmte Ersatzzeiten sowie Berücksichtigungszeiten, die im Gesetz im Detail beschrieben sind. Sind diese 40 Jahre erreicht, treten an die Stelle des 65. Lebensjahres das 63. Lebensjahr und an die Stelle des 62. Lebensjahres das 60. Lebensjahr.
Praktisch bedeutet das: Beginnt die EM-Rente erst nach Vollendung des 63. Lebensjahres, wird kein Abschlag erhoben; der Zugangsfaktor bleibt 1,0. Die Voraussetzung „40 Versicherungsjahre“ ist dabei keine unverbindliche Empfehlung, sondern eine harte Schwelle, die erfüllt sein muss.
Was als Versicherungsjahre zählt – und wie Lücken vermieden werden
Entscheidend ist nicht nur die nackte Zahl von Kalenderjahren, sondern die Art der anrechenbaren Zeiten. Klassische Pflichtbeiträge aus Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit, freiwillige Beiträge, Kindererziehungszeiten, Zeiten der nicht erwerbsmäßigen Pflege sowie bestimmte Ersatzzeiten können den Ausschlag geben.
Lücken im Versicherungsverlauf sind deshalb mehr als bloße Formalien: Sie können dazu führen, dass die 40-Jahres-Schwelle knapp verfehlt wird und damit Abschlagsfreiheit verloren geht.
Wer seinen Versicherungsverlauf sorgfältig prüft, fehlende Zeiten klärt und – wo möglich – durch Nachweise schließen lässt, stärkt die eigene Rechtsposition im Hinblick auf § 77 Absatz 4 SGB VI.
Zurechnungszeiten seit 2019: Der stille Verstärker der EM-Rente
Ein zweiter, oft unterschätzter Baustein ist die Zurechnungszeit. Seit 2019 werden bei EM-Renten Zeiten fiktiv bis zur jeweiligen Regelaltersgrenze angerechnet. Das System unterstellt, die versicherte Person hätte bis zur Regelaltersgrenze weitergearbeitet, und bewertet diese fiktive Zeit anhand der bisherigen Entgeltpunkte.
Für die Praxis bedeutet das: Früh eintretende Erwerbsminderung führt nicht automatisch zu einer dauerhaft „kurzen“ Rente.
Die verlängerten Zurechnungszeiten gleichen fehlende Erwerbsjahre teilweise aus und heben die persönlichen Entgeltpunkte. Kombiniert man diese Wirkung mit einer abschlagsfreien EM-Rente ab 63, ergeben sich häufig spürbar höhere Monatsbeträge, als viele Betroffene erwarten.
Übergang in die Altersrente: Besitzschutz sichert das erreichte Niveau
Wer später aus der EM-Rente in eine Altersrente wechselt, muss nicht befürchten, dass die zuvor günstig berechnete Rente wieder einbricht. Der Besitzschutz des § 88 SGB VI stellt sicher, dass die Altersrente grundsätzlich nicht niedriger ausfallen darf als die bisherige EM-Rente.
In der Praxis bleibt damit der höhere Zahlbetrag erhalten, der durch Zurechnungszeiten und – bei Vorliegen der Voraussetzungen – durch die Abschlagsfreiheit ab 63 zustande gekommen ist. Zu beachten sind dabei Fristen und Detailregeln, die im Einzelfall eine Rolle spielen können; am Grundprinzip des Schutzes ändert das jedoch nichts.
Wann die Ausnahme trägt – und wann nicht
Gedacht sei an eine Versicherte mit 40 belegten Versicherungsjahren, deren EM-Rente im Monat nach ihrem 63. Geburtstag beginnt. In dieser Konstellation greift § 77 Absatz 4 SGB VI: Der Zugangsfaktor bleibt 1,0, Abschläge werden nicht erhoben.
Gleichzeitig fließen Zurechnungszeiten bis zur Regelaltersgrenze in die Berechnung ein, wodurch die persönlichen Entgeltpunkte steigen. Wechselt die Versicherte einige Jahre später in die Regelaltersrente, schützt § 88 SGB VI das erreichte Rentenniveau.
Beginnt dieselbe Rente hingegen bereits mit 62, also vor Vollendung des 63. Lebensjahres, greift die Ausnahme nicht. Es gilt die Grundregel des § 77 Absatz 2 SGB VI mit monatlicher Minderung um 0,3 Prozent bis maximal 10,8 Prozent. Der Unterschied summiert sich über die Jahre zu erheblichen Beträgen.
Worauf EM-Rentner konkret achten sollten
Wer prüfen möchte, ob eine abschlagsfreie EM-Rente ab 63 in Betracht kommt, sollte den Rentenbescheid und den Versicherungsverlauf mit einem klaren Blick lesen.
Von hoher Wichtigkeit sind drei Dinge:
Erstens das Lebensalter beim Rentenbeginn, denn allein dieser Zeitpunkt entscheidet über das Eingreifen der Ausnahme.
Zweitens der Zugangsfaktor, der bei Abschlagsfreiheit mit 1,0 ausgewiesen sein muss.
Drittens die dokumentierten anrechenbaren Zeiten, aus denen hervorgeht, ob die 40-Jahres-Schwelle tatsächlich erreicht wurde. Ergänzend lohnt sich ein Blick auf die ausgewiesene Zurechnungszeit und deren Enddatum an der Regelaltersgrenze.
Wer Unstimmigkeiten entdeckt, sollte zeitnah klären, ob Nachweise (etwa zu Kindererziehung, Pflege oder freiwilligen Beiträgen) nachgereicht werden können.
Grenzen, Missverständnisse und der richtige Zeitpunkt
Nicht die Regelaltersgrenze, sondern das vollendete Lebensalter beim Beginn der EM-Rente ist der Drehpunkt für Abschläge oder deren Wegfall. Der häufig anzutreffende Gedanke, dass persönliche Anhebungen der Regelaltersgrenze automatisch auch die Abschläge bei der EM-Rente verschieben, führt in die Irre.
Ebenso wenig genügt es, „ungefähr“ 40 Versicherungsjahre zusammenzuhaben; das Gesetz verlangt eine belastbare Basis an anrechenbaren Zeiten. Schließlich kann der sorgfältige Umgang mit Übergängen und Fristen rund um die Umwandlung in eine Altersrente den Besitzschutz sichern und spätere Überraschungen vermeiden.
Wer hier frühzeitig plant, gewinnt Handlungsspielraum – etwa, indem ein Rentenbeginn bewusst auf die Zeit nach dem 63. Geburtstag gelegt wird, sofern der Gesundheitszustand und die Erwerbsbiografie dies zulassen.
Fragen und Anworten zur abschlagsfreien Rente für EM-Rentner
Unter welchen Voraussetzungen ist eine EM-Rente ab 63 wirklich abschlagsfrei?
Antwort: Abschlagsfreiheit besteht, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens muss der Rentenbeginn nach Vollendung des 63. Lebensjahres liegen. Zweitens muss die Rente „auf mindestens 40 Versicherungsjahren“ beruhen, also auf anrechenbaren Zeiten nach §§ 51 und 52 SGB VI.
Sind beide Punkte erfüllt, bleibt der Zugangsfaktor 1,0 – es werden keine Abschläge erhoben. Die persönliche Regelaltersgrenze spielt dafür keine Rolle; entscheidend ist ausschließlich das Lebensalter beim Rentenbeginn.
Welche Zeiten zählen für die 40 Versicherungsjahre und worauf sollte ich achten?
Antwort: Maßgeblich sind vor allem Beitragszeiten (z. B. aus Beschäftigung oder freiwilligen Beiträgen), bestimmte Ersatzzeiten sowie Berücksichtigungszeiten im Sinne der §§ 51 und 52 SGB VI. Wichtig ist eine lückenlose Klärung des Versicherungsverlaufs: Fehlende oder unvollständig nachgewiesene Zeiten können dazu führen, dass die 40-Jahres-Schwelle formal nicht erreicht wird.
Es lohnt sich daher, Nachweise etwa zu Kindererziehung, Pflege oder freiwilligen Beiträgen frühzeitig zusammenzustellen und im Zweifel nachzureichen.
Was passiert, wenn die EM-Rente vor dem 63. Geburtstag beginnt?
Antwort: Dann greift die Grundregel des § 77 Abs. 2 SGB VI: Für jeden Monat, den die Rente vor dem maßgeblichen Alter beginnt, mindert sich der Zugangsfaktor um 0,003 – das entspricht einem Abschlag von 0,3 % pro Monat, maximal 10,8 %.
Beginnt die EM-Rente beispielsweise 36 Monate vor dem maßgeblichen Alter, beträgt der Abschlag 36 × 0,3 % = 10,8 % und wirkt dauerhaft für die gesamte Laufzeit der EM-Rente.
Wie wirken die seit 2019 verlängerten Zurechnungszeiten auf meine EM-Rente?
Antwort: Zurechnungszeiten unterstellen, dass Sie ab Eintritt der Erwerbsminderung bis zur Regelaltersgrenze weiter versichert gewesen wären. Diese fiktive Zeit wird mit Ihren bisherigen Durchschnittswerten bewertet und erhöht die persönlichen Entgeltpunkte.
Das federt fehlende Erwerbsjahre ab und kann den Rentenbetrag spürbar steigern. In Kombination mit einer abschlagsfreien EM-Rente ab 63 entsteht so häufig ein deutlich höheres Leistungsniveau.
Bleibt der höhere Zahlbetrag später in der Altersrente erhalten (Besitzschutz)?
Antwort: Ja, in der Regel schützt § 88 SGB VI das erreichte Niveau. Wechselt eine EM-Rente nahtlos in eine Altersrente oder beginnt die Altersrente innerhalb von 24 Kalendermonaten nach Ende der EM-Rente, darf die neue Rente nicht niedriger sein als die vorherige EM-Rente.
Dieser Besitzschutz sorgt dafür, dass Vorteile aus Zurechnungszeiten und – sofern erfüllt – der Abschlagsfreiheit ab 63 auch im Altersrentenbezug fortwirken. Wichtig ist ein sorgfältig geplanter Übergang, damit Fristen eingehalten werden.
Fazit: Abschlagsfrei ab 63 ist möglich – wenn die Details stimmen
§ 77 SGB VI lässt eine EM-Rente ab 63 ohne Abschläge zu, sofern die Rente auf mindestens 40 anrechenbaren Versicherungsjahren beruht und der Beginn erst nach Vollendung des 63. Lebensjahres liegt. Seit 2019 verstärken verlängerte Zurechnungszeiten die Rentenhöhe, indem sie die Lücke bis zur Regelaltersgrenze fiktiv schließen.
Mit dem Besitzschutz des § 88 SGB VI bleibt das erreichte Niveau im späteren Altersrentenbezug in der Regel erhalten.
Wer die Voraussetzungen präzise prüft, den Zeitpunkt des Rentenbeginns klug wählt und seinen Versicherungsverlauf vollständig dokumentiert, kann auf dieser Basis dauerhaft spürbar mehr Rente erzielen.




