Wer klagt, will eine Prüfung des eigenen Falls. Genau daran scheiterte ein Verfahren im Schwerbehindertenrecht vor dem Sozialgericht Ulm: Im Gerichtsbescheid tauchten plötzlich Anträge und Schilderungen auf, die mit dem Verfahren des Klägers nicht zusammenpassten – bis hin zu einem Antrag auf GdB 100 und das Merkzeichen B sowie Passagen über ÖPNV-Nutzung nur mit Begleitperson, weil Stufen nicht allein bewältigt würden.
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hob den Gerichtsbescheid deshalb auf und verwies den Rechtsstreit zurück: Die erste Instanz muss neu verhandeln und diesmal über den tatsächlichen Streitgegenstand entscheiden.
Was genau schiefgelaufen ist – und warum das nicht „nur“ eine schwache Begründung war
In der Verhandlung ging es um eine Neufeststellung des GdB. Der Kläger hatte nach früheren Bescheiden einen Änderungsantrag gestellt; später stellte die Behörde ab einem bestimmten Zeitpunkt einen GdB von 30 fest. Der Kläger wollte mehr und ging vor Gericht.
Das Sozialgericht Ulm wies die Klage per Gerichtsbescheid ab – aber mit Textbausteinen, die ersichtlich nicht zum Verfahren passten. Im Tatbestand wurden Anträge referiert, die der Kläger so nicht gestellt hatte, und es wurde eine Beweisaufnahme beschrieben, die sich wie ein anderes Verfahren liest.
In den Entscheidungsgründen setzte sich das Gericht dann mit einem angeblichen Anspruch auf GdB 100 und das Merkzeichen B auseinander, obwohl der Streitstoff des Verfahrens gerade nicht in dieser Gestalt vorlag. Zusätzlich: Zwei Seiten des zugestellten Gerichtsbescheids waren leer.
Das LSG sagt sinngemäß: Hier ist zwar formal eine Sachentscheidung ergangen, tatsächlich aber über einen anderen, den Kläger nicht betreffenden Streitgegenstand. Bezogen auf den eigenen Anspruch ist das Ergebnis damit eine „Nichtentscheidung“.
Warum das LSG zurückverweist – und nicht einfach selbst entscheidet
Normalerweise kann ein Landessozialgericht einen Fall auch selbst entscheiden. Hier hielt das LSG die Rückgabe an das Sozialgericht für geboten, weil sonst faktisch eine Tatsacheninstanz verloren ginge.
Wenn die erste Instanz den Streitstoff nicht bearbeitet, fehlt die Grundlage, auf der die zweite Instanz sauber „nur noch“ kontrolliert oder ergänzt. Außerdem deutete schon der Verlauf an, dass weitere Ermittlungen nötig sein dürften.
Übersetzt heißt das: Wer in der ersten Instanz keine echte Prüfung bekommt, soll nicht auch noch um die Chance gebracht werden, dass ein Gericht den Sachverhalt vollständig aufklärt und würdigt – genau deshalb muss das Sozialgericht neu ran.
Widerspruch per E-Mail – meist unwirksam, aber oft trotzdem folgenreich
Der Fall enthält eine typische Vorgeschichte, die in der Praxis ständig passiert: Der Kläger legte gegen einen Bescheid zunächst per E-Mail Widerspruch ein. Die Behörde bestätigte den Eingang, verlangte aber „aus Gründen der Rechtssicherheit“ eine Bestätigung mit Originalunterschrift innerhalb einer Frist.
Der Kläger schickte nochmals eine E-Mail, die unterschriebene Bestätigung kam jedoch nicht rechtzeitig; später erklärte die Behörde, es liege kein rechtswirksamer Widerspruch vor.
Das LSG stellt klar: Ein Widerspruch muss grundsätzlich schriftlich, zur Niederschrift oder elektronisch in der gesetzlich vorgesehenen Form eingelegt werden; eine schlichte E-Mail genügt wegen Missbrauchsgefahr regelmäßig nicht.
Gleichzeitig liefert das Urteil den wichtigen Zusatz, der Betroffene vor einer Rechtsschutzlücke schützt: Auch ein formunwirksamer Widerspruch setzt das Vorverfahren häufig faktisch in Gang.
Erlässt die Behörde dann im laufenden Kontext einen neuen Bescheid, der denselben Regelungsbereich betrifft und sich mit dem alten überschneidet – etwa weil er teilweise „abhilft“ oder ab einem späteren Zeitpunkt besserstellt –, kann dieser neue Bescheid Gegenstand des Vorverfahrens werden. Genau das verhindert, dass Betroffene am Ende ohne Sachentscheidung dastehen, nur weil der erste Widerspruch an der Form scheiterte.
Was Betroffene jetzt konkret daraus lernen sollten
Wenn ein Gerichtsbescheid ins Haus flattert, zählt nicht nur das Ergebnis, sondern zuerst die Passgenauigkeit: Stimmen die Bescheiddaten, passt der Antrag, tauchen die eigenen Argumente und Gesundheitsangaben wieder auf, und wird wirklich über das entschieden, was im Verfahren streitig war?
Wenn stattdessen fremde Anträge, fremde Beweisaufnahmen oder thematisch völlig abweichende Passagen auftauchen, ist das kein „redaktioneller Fehler“, sondern ein massiver Verfahrensmangel, der im Rechtsmittel angegriffen werden kann – und zwar fristgebunden.
Beim Widerspruch gilt derselbe Grundsatz: Geschwindigkeit hilft nur, wenn die Form hält. Wer Widerspruch einlegen will, muss ihn so übermitteln, dass er formwirksam ist und der Zugang notfalls beweisbar bleibt.
Eine einfache E-Mail wirkt bequem, ist aber im Sozialrecht häufig ein Eigentor; wenn es knapp wird, ist der sichere Weg die unterschriebene Schriftform oder die Einlegung zur Niederschrift, und wer elektronisch arbeitet, muss die dafür vorgesehenen Anforderungen erfüllen.
Quelle: Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 13.08.2025, Az. L 3 SB 2766/24 (Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Ulm vom 20.08.2024, Zurückverweisung).




