Schwerbehinderung: Gericht lehnt Merkzeichen aG ab – Vermeide diesen Fehler

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Ein 57-jähriger Schwerbehinderter aus Baden-Württemberg verlor vor dem Landessozialgericht (LSG) den Kampf um das begehrte Merkzeichen aG. Trotz eines Gesamt GdB von 100 sahen die Richter keine „außergewöhnliche Gehbehinderung“.

Mehrere Gutachten bestätigten, dass der Mann Wegstrecken von bis zu 500 Metern bewältigt – damit fehlt die „dauernde Rollstuhlpflicht“ als entscheidendes Kriterium. Das Urteil liefert handfeste Maßstäbe für künftige Anträge und zeigt, wie eng Gerichte den Begriff „große Anstrengung“ inzwischen fassen.

Fallgeschichte: Vom Widerspruch bis zur letzten Instanz

Der Kläger lebt seit Jahren mit Arthrosen in Knie, Hüft- und Sprunggelenken, Wirbelsäulenproblemen, Asthma und einer chronischen Schmerzstörung.

Schon 2013 erhielt er das Merkzeichen G und das Begleit­personen­zeichen B. Fünf Jahre später beantragte er zusätzlich aG – entscheidend für Behinderten­parkplätze, vergünstigte Kfz-Steuer und weitere Erleichterungen.

Stationen des Verfahrens

Ablehnungsbescheid der Versorgungs­behörde (Februar 2019)
Klage vor dem Sozialgericht Mannheim – abgewiesen (Dezember 2021)
Berufung vor dem LSG – endgültige Abfuhr (November 2022)

Der Kläger argumentierte, er nutze wegen starker Schmerzen einen Rollstuhl und stürze häufig. Die Gerichte glaubten ihm nur in Teilen: Zwei gerichtlich bestellte Sachverständige bescheinigten ihm eine deutliche, aber eben nicht außergewöhnliche Mobilitäts­einschränkung. Außerdem deckten sie eine Muskel­ausprägung auf, die zu einer angeblich „überwiegenden Rollstuhl­nutzung“ nicht passte.

Gesetzlicher Rahmen: § 229 Abs. 3 SGB IX im Klartext

Seit Ende 2016 ersetzt § 229 Abs. 3 SGB IX die alten Verwaltungsvorschriften. Entscheidend ist, ob eine „erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung“ vorliegt, die einem Einzel GdB von 80 entspricht.

Schlüsselbegriffe im Urteil

  • Dauernd: heißt vom ersten Schritt außerhalb des Autos an.
  • Mit fremder Hilfe oder großer Anstrengung: Hilfsperson, dauerhafte Stütze oder Rollstuhl für kürzeste Strecken.
  • Wegefähigkeit: Rentenrechtliches Prüfkriterium, ob jemand viermal täglich 500 m in 20 Minuten schafft. Wird diese Fähigkeit bejaht, kippt der aG-Anspruch fast immer.

Warum der Kläger scheiterte

Die Richter stützten sich auf drei Quellen:

  1. Fachärztliche Zeugenauskünfte: Haus und Orthopäde beschrieben eine freie Gehstrecke von 150 bis 200 m ohne Gehhilfen.
  2. Gerichtliche Gutachten: Orthopäde und Neurologe hielten viermal 500 m für zumutbar; sie wiesen sogar auf Aggravation hin.
  3. Rehaberichte: Bei aktuellem Klinik­aufenthalt lief der Kläger unter Beobachtung sicher ohne Hilfsmittel.

Das LSG folgerte: Keine dauerhafte Rollstuhl­pflicht, keine extreme Erschöpfung schon nach wenigen Schritten – ergo kein aG.

Relevanz für Leserinnen und Leser von gegenhartz.de

Schwerbehinderte Menschen investieren oft erheblichen Aufwand, um Parkerleichterungen oder einen vollständigen Kfz-Steuererlass zu erhalten. Das jüngste Urteil zeigt, wie wichtig es ist, Angaben im Schwerbehinderten­verfahren konsequent miteinander abzugleichen; selbst kleine Widersprüche können die eigene Glaubwürdigkeit vor Gericht untergraben.

Maßgeblich bleibt die realistisch zurücklegbare Wegstrecke – die Richter prüfen weiterhin, ob Betroffene viermal täglich 500 Meter in höchstens zwanzig Minuten schaffen.

Darüber hinaus zählt die Art der Hilfsmittel­nutzung: Ein Rollstuhl, der lediglich als „Notfallgerät“ dient, genügt für das Merkzeichen aG meist nicht; erforderlich ist eine dauerhafte, unverzichtbare Nutzung schon für kürzeste Wege.

Praktische Tipps für den nächsten aG-Antrag

Führen Sie zunächst sorgfältig Tagebuch, in dem Sie für jede zurückgelegte Wegstrecke Datum, Distanz, erforderliche Pausenzeiten und Ihre Schmerzen auf einer Skala festhalten. Parallel dazu sollten Sie fachärztliche Gutachten gezielt dort einholen, wo Ihr Hauptleiden liegt – etwa aus Orthopädie, Neurologie oder Kardiologie –, denn genau diese Berichte überzeugen Gerichte am meisten.

Belegen Sie außerdem den tatsächlichen Einsatz Ihrer Hilfsmittel: Sammeln Sie Quittungen, fotografieren Sie Rezepte oder legen Sie Berichte der Physiotherapie vor.

Achten Sie darauf, in allen Sozialverfahren identische Angaben zu machen, um Widersprüche zu vermeiden. Und binden Sie möglichst früh einen Sozialverband oder eine auf Sozialrecht spezialisierte Anwältin ein, damit Sie Fristen wahren und keine formalen Fallstricke übersehen.

Politik und Kritik: Zwischen Teilhabeanspruch und Parkplatzknappheit

Behindertenverbände monieren, dass Deutschland trotz UN-Behindertenrechtskonvention weiterhin hohe Schwellen setzt. Kommunen argumentieren dagegen mit knappen Parkflächen; der Kreis der Berechtigten müsse überschaubar bleiben, sonst leide die Akzeptanz. Das LSG stützt diese Linie ausdrücklich und verweist auf den „engen Begünstigtenkreis“ des Gesetzgebers.

Für Betroffene bedeutet das: Recht bekommen heißt oft, statistische Wahrscheinlichkeit überwinden. Denn Gerichte wägen immer zwischen individuellem Teilhabe­anspruch und öffentlichem Interesse an begrenzten Ressourcen ab.

Merkzeichen G, aG oder doch Pflegegrad? – kurz und knapp

Merkmal Hauptnutzen Hürde Typische Nachweise
G ÖPNV-Rabatt, Kfz-Steuer 50 % Gehstrecke ≤2 km Hausarzt­bericht
aG Behinderten­parkplätze, Steuer-Erlass 100 % Dauer­rollstuhl bzw. <100 m
Orthopädisches Vollgutachten
Pflegegrad 2+ Pflegegeld Grundpflege-Zeit MD-Bericht

Die Tabelle zeigt, dass aG das höchste Mobilitäts­handicap voraussetzt und nicht automatisch mit Pflegegrad oder hohem GdB korreliert.