Schwerbehinderung: Merkzeichen G und B entzogen, GdB gesenkt – Gericht zeigt, was jetzt wirklich zählt

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Das Hessische Landessozialgericht hat mit Urteil vom 02.02.2023 (Az.: L 3 SB 51/22) die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 60 auf 50 sowie den Entzug der Merkzeichen „G“ und „B“ bestätigt. Maßgeblich war, dass sich der Gesundheitszustand nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma und weiteren Folgen erkennbar gebessert hatte und die gesetzlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche nicht mehr vorlagen.

Das Verfahren zeigt, worauf es bei GdB-Absenkungen und bei G/B-Prüfungen tatsächlich ankommt – und welche Fehler Betroffene vermeiden sollten.

Der Fall in Kürze: Besserung der Gesundheitslage – neue Bewertung

Die Klägerin erlitt 2015 auf dem Arbeitsweg ein Polytrauma mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma. Anfangs wurde ein GdB 60 sowie die Merkzeichen G (erhebliche Gehbehinderung) und B (ständige Begleitung) anerkannt. Nach mehreren Jahren medizinischer Behandlung nahm die Behörde 2019 – gestützt auf aktuelle Befunde – eine Abänderung vor: GdB 50, Merkzeichen weg.

Das Sozialgericht Kassel bestätigte diese Entscheidung 2022, das Hessische LSG wies die Berufung 2023 zurück; ein Befangenheitsantrag gegen einen Sachverständigen blieb ohne Erfolg. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Rechtsgrundlage der Abänderung ist § 48 SGB X: Ändern sich wesentliche Verhältnisse – hier: eine dokumentierte gesundheitliche Besserung –, darf die Behörde den Ursprungsbescheid anpassen.

Das LSG stützte sich auf ein orthopädisches und ein neuro-psychiatrisches Gutachten sowie auf aktuelle Behandlungsberichte; entscheidend war, dass objektivierbare Funktionen besser geworden waren und sich im Alltag widerspiegelten.

Wie das Gericht rechnet: Einzel-GdB und Gesamtschau

Die Richter:innen ordneten der Hirnschädigung mit kognitiver Leistungsstörung einen Einzel-GdB 40 zu. Für die Wirbelsäulenbeschwerden (HWS/LWS, inkl. Bandscheibenbefunde) wurde Einzel-GdB 20 angenommen.

Ein Fibromyalgiesyndrom und eine chronische Schmerzstörung wurden berücksichtigt, führten aber nicht zu einer höheren Gesamtbewertung, weil sich Symptome und Funktionsverluste überlappten. In der Gesamtschau blieb es bei GdB 50.

Wichtig für Betroffene: Nicht die Summe aller Einzel-GdB zählt, sondern die Auswirkungen in ihrer Gesamtwirkung. Überlappungen verhindern, dass einzelne Beschwerden „doppelt“ gewertet werden.

Merkzeichen „G“: Alltag zählt mehr als Hilfsmittel

Für „G“ muss die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sein. Das LSG hob hervor, dass Alltagsindikatoren großes Gewicht haben: sicheres Gangbild in Befunden, regelmäßige Spaziergänge, Nutzung des ÖPNV, eigenständiges Erreichen von Praxen ohne Hilfe.

Als Orientierungsgröße wurde die häufig verwendete Strecke von rund 2 km in etwa 30 Minuten herangezogen. Danach war die Klägerin ortsübliche Wegstrecken weiterhin zumutbar in der Lage zurückzulegen.

Ein verbreiteter Irrtum: Hilfsmittelgebrauch allein – etwa ein Stock oder Walkingstöcke – begründet das Merkzeichen nicht. Maßgeblich ist, warum und wie stark das Gehvermögen funktionell eingeschränkt ist.

Sind die maßgeblichen Einschränkungen an den unteren Gliedmaßen oder der LWS nur leichter bis mittelgradiger Natur (Einzel-GdB 20–30), bleibt „G“ regelmäßig außer Reichweite.

Merkzeichen „B“: Ohne „G“ fehlt die Basis – Begleitbedarf muss belegt sein

Das Merkzeichen „B“ setzt in der Praxis regelmäßig „G“ und einen ständigen Begleitbedarf voraus, etwa wegen erheblich eingeschränkter Orientierungs- oder Steuerungsfähigkeit. Beides sah das LSG hier nicht:

Die neuropsychologischen Einschränkungen hatten sich gebessert, eine Orientierungsstörung ergab sich nach den Gutachten nicht; die geltend gemachte Vernachlässigung einer Raumseite war nur noch in Restform vorhanden und nicht so ausgeprägt, dass eine ständige Begleitung nötig wäre. Deshalb entfiel das Merkzeichen „B“.

Beweisführung: Objektiv messen, nicht nur schildern

Das Urteil macht klar, dass schlichte Selbsteinschätzungen („2 km in 30 Minuten schaffe ich nicht“) nicht ausreichen, um belastbare medizinische Befunde zu entkräften. Entscheidend sind objektive Messungen: dokumentierte Gangstrecken und Gehzeiten, neurologische Leistungsdiagnostik, standardisierte Funktionstests, aktuelle Bildgebung nur dort, wo sie die Funktionseinschränkung plausibel erklärt.

Tagebücher zu Belastung, Schmerzspitzen, Pausenbedarf und Sturzereignissen können unterstützen – ersetzen aber keine fachärztlichen Feststellungen.

Gutachten und Befangenheit: Substanz schlägt Form

Der Befangenheitsantrag gegen den Sachverständigen blieb erfolglos. Das Gericht prüfte, fand aber keine Anhaltspunkte für Voreingenommenheit. Für die Praxis heißt das: Wer ein Gutachten angreifen will, sollte inhaltlich ansetzen – methodische Lücken, widersprüchliche Befunde, fehlende Auseinandersetzung mit Vorbefunden, nicht berücksichtigte Tests. Reine Formangriffe ohne Substanz helfen selten.

Was Betroffene aus dem Urteil mitnehmen sollten

Wer eine GdB-Absenkung oder den Entzug von G/B verhindern will, braucht aktuelle, belastbare medizinische Unterlagen, die funktionale Grenzen nachvollziehbar belegen. Gerade bei wechselhaften Verläufen – etwa nach SHT, mit Schmerz- und Erschöpfungssymptomatik – sind neuropsychologische Testungen (Aufmerksamkeit, Verarbeitungsgeschwindigkeit, Exekutivfunktionen) und alltagsnahe Belastungstests (Geh-/Stehtests, 6-Minuten-Gehtest) oft entscheidend.

Wer meint, dass die Behörde „Besserung“ überschätzt, sollte zeitnah Gegenbefunde beibringen, bevor ein einmal verfestigtes Bild die weitere Bewertung prägt.

Prozessual gilt: Eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ist nur zulässig, wenn beide Seiten zustimmen. Wer eine mündliche Beweisaufnahme für nötig hält – etwa zur Erläuterung eines Gutachtens –, sollte auf dem Termin bestehen und dies begründet anmelden.

Einordnung: Keine Verschärfung, aber klare Linie

Das LSG setzt keine neuen Hürden, es zeigt jedoch mit seltener Deutlichkeit, wie Gerichte Alltagsfunktion, objektive Befunde und VMG-Systematik gewichten. „G“ bleibt eine funktionale Hürde; „B“ verlangt mehr als Unsicherheit oder gelegentliche Unterstützung.

Wer beides behalten oder durchsetzen will, muss konkret nachweisen, dass selbst ortsübliche Kurzstrecken nur unter außergewöhnlichen Einschränkungen bewältigt werden können – und dass ohne regelmäßige Begleitung erhebliche Gefährdungen oder Orientierungsdefizite bestehen.