Jobcenter verweigerte Neugeborenem Bürgergeld

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Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat mit seinem inzwischen rechtskräftigen Urteil (Az. L 12 AS 1323/19) entschieden, dass ein in Deutschland geborenes Kind ab dem ersten Lebenstag einen Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II, Bürgergeld) hat, wenn seine Mutter zum Zeitpunkt der Geburt im Besitz einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz ist.

Damit bestätigte das LSG eine erstinstanzliche Entscheidung des Sozialgerichts Köln und wies die Berufung des örtlichen Jobcenters zurück.

Hintergrund des Falls

Die Klägerin kam 2018 in Köln zur Welt und lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und einer Schwester in einem Haushalt.

Die Familie stammt aus Bosnien-Herzegowina, beide Erwachsenen verfügen über eine befristete Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG.

Das Jobcenter Köln gewährte zwar den bereits in Deutschland lebenden Familienmitgliedern SGB-II-Leistungen, verweigerte dem Neugeborenen jedoch für die ersten drei Lebensmonate jede Zahlung mit Hinweis auf den in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II normierten Leistungsausschluss für neu eingereiste Drittstaatsangehörige.

Erstinstanzliche Entscheidung

Vor dem Sozialgericht Köln hatte die Familie Erfolg: Die Richterinnen und Richter befanden, dass der Leistungsausschluss nicht greife und die Leistungen rückwirkend zu bewilligen seien.

Das Jobcenter legte dennoch Berufung ein,bestand weiterhin auf einer strikten Anwendung des Dreimonats-Ausschlusses und verwies darauf, dass weder die Mutter noch das Kind Arbeitnehmerinnenstatus oder Freizügigkeitsrechte nach dem FreizügG/EU besäßen.

Maßgebliche Entscheidungsgründe des Landessozialgerichts

Das LSG bestätigte ausdrücklich, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II grundsätzlich einen dreimonatigen Leistungsausschluss für Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familien vorsieht, wenn sie sich nicht als Arbeitnehmerinnen, Selbständige oder freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger in Deutschland aufhalten.

Gleichzeitig verwies der Senat aber auf die in Satz 3 derselben Vorschrift enthaltene Rückausnahme: Wer – wie die Mutter – mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 AufenthG im Bundesgebiet lebt, ist nicht vom Leistungsausschluss erfasst.

Nach Ansicht des Gerichts gebietet die Systematik des Gesetzes, diese Privilegierung spiegelbildlich auf das neugeborene Kind zu übertragen. Eine anderslautende Auslegung würde den Schutzzweck der Norm – die Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums – unterlaufen.

Rechtlicher Rahmen

§ 7 Abs. 1 SGB II regelt die persönlichen Voraussetzungen für den Bezug von Grundsicherungsleistungen.

Während Satz 2 einzelne Personengruppen vorübergehend oder dauerhaft ausschließt, öffnet Satz 3 die Tür für jene, deren Aufenthalt auf humanitärem, völkerrechtlichem oder politischen Schutz beruht (§§ 22–26 AufenthG).

Der 25. Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes deckt insbesondere Personen ab, denen eine Rückkehr in ihr Herkunftsland wegen schwerwiegender persönlicher Umstände nicht zugemutet werden kann.

Die Norm soll sicherstellen, dass dieser besonders vulnerablen Gruppe und ihren Familien während ihres Aufenthalts ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe gewährt wird.

Das LSG stützte seine Entscheidung auf eine kombinierte Wortlaut-, System- und Teleologieauslegung. Obwohl das Kind selbst (noch) keinen eigenständigen Aufenthaltstitel besaß, schlüpfe es gleichsam unter den Schutzschirm der Mutter.

Die Richterinnen und Richter verwiesen dabei auf die Gesetzesmaterialien: Der Gesetzgeber habe mit der Rückausnahme ausdrücklich vermeiden wollen, dass Personen, die sich aus humanitären Gründen legal in Deutschland aufhalten, in den ersten Monaten nach ihrer Einreise ohne existenzsichernde Leistungen bleiben. Dieselbe Wertung müsse erst recht gelten, wenn das Kind nicht zugewandert, sondern bereits in Deutschland geboren sei.

Folgen für die Verwaltungspraxis der Jobcenter

Wird ein Kind in Deutschland geboren und verfügt ein Elternteil über eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 22 bis 26 AufenthG, besteht der Leistungsanspruch von Geburt an.

Die Behörde darf den Dreimonats-Ausschluss nicht anwenden, selbst wenn das Neugeborene formal noch kein eigenes Visum oder keine eigenständige Aufenthaltserlaubnis besitzt.

Praktisch bedeutet das, dass Anträge unmittelbar zu bewilligen sind und kein Verweis auf das Asylbewerberleistungsgesetz oder andere Hilfesysteme erfolgt.

Das Urteil stärkt somit die soziale Absicherung von Kindern aus Schutzfamilien nachhaltig. Durch die sofortige Leistungseröffnung können Bedarfe für Ernährung, Windeln, Kleidung und Wohnung ohne Lücke gedeckt werden. Zugleich unterstreicht es, dass der deutsche Sozialstaat das Wohl des Kindes über migrationsrechtliche Formalien stellt. Für Wohlfahrtsverbände und Beratungsstellen liefert die Entscheidung ein wichtiges Argumentationsinstrument gegenüber Leistungsträgern, die sich bislang auf den Ausschluss berufen.

Rechtsberaterinnen und Migrationsorganisationen begrüßten das Urteil als deutliche Absage an eine restriktive Bewilligungspraxis. Ob sich die Linie bundesweit verfestigt, dürfte sich in künftigen Verfahren vor anderen Landessozialgerichten und dem Bundessozialgericht zeigen.

Eine höchstrichterliche Bestätigung könnte die Rechtslage für alle Jobcenter vereinheitlichen und so Rechtsstreitigkeiten vermeiden, die Familien in prekären Situationen oft jahrelang belasten.