Mit einem wegweisenden Urteil gibt der 9. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen bekannt (Az. L 9 SO 259/23).
Demnach muss der Sozialhilfeträger die ungedeckten Heimkosten der verstorbenen Demenzkranken gegenüber dem Heimträger zahlen, obwohl das Vermögen der Verstorbenen in Höhe von ca. 40.000 Euro ungeklärt ist. Das Sozialamt kann nur dann Regress nehmen, wenn es nachweist, wem das Vermögen zugeflossen ist.
In einem solchen Fall darf das Sozialamt nicht mit Erfolg einwenden, der Verbleib des Vermögens dürfe im Hinblick auf einen eventuellen Regressanspruch nicht offengelassen werden.
Zwar kann der Sozialhilfeträger nur Regress nehmen, wenn geklärt ist, ob und gegebenenfalls wem das Vermögen zugeflossen ist. Der durch den Einwand des Sozialamtes angesprochene Nachrang der Sozialhilfe (§ 2 SGB XII) hat aber nicht zur Folge, dass Leistungen abgelehnt werden können, bis eine eventuelle gegebene Regressmöglichkeit sicher festgestellt ist.
Kein verwertbares Vermögen mehr vorhanden – somit besteht Leistungsanspruch
Ein Leistungsanspruch ist – bei Vorliegen aller weiteren Voraussetzungen – bereits gegeben, wenn verwertbares Vermögen bei dem Anspruchsteller sicher nicht mehr vorhanden ist.
Denn ist der Sozialhilfeträger der Meinung, es sei naheliegend, dass das Vermögen von einem Dritten entzogen worden ist, ist er verpflichtet, zur Aufklärung von Regressmöglichkeiten weitere Ermittlungen durchzuführen.
Das Sozialamt ist aber – nicht aber berechtigt, den Anspruch des Leistungsberechtigten abzulehnen.
Das Gericht lässt offen, was im Einzelnen mit dem vorher vorhanden Vermögen passiert ist, insbesondere mit den 40.000 €
Gesundheitliche Einschränkungen – wie hier im Einzelfall Demenzerkrankung – können reduzierte Anforderungen an den Nachweis des Verbleibs des Vermögens stellen
Denn die Annahme von Hilfebedürftigkeit setzt grundsätzlich voraus, dass der Verbleib von Vermögen nachgewiesen wird, wenn ein solches zu einem früheren Zeitpunkt vorhanden gewesen ist (LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 14.12.2016 – L 34 AS 1350/13; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 06.04.2018 – L 20 SO 199/17).
Davon abweichend kann aber bestehen in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Verbleib von vorhandenem Vermögen aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen des Leistungsberechtigten, insbesondere einer Demenzerkrankung, nicht mehr vollständig geklärt werden kann, reduzierte Anforderungen an den Nachweis des Verbleibs des Vermögens (vergl. dazu auch Beschlüsse des Senats vom 25.10.2017 – L 9 SO 413/17 B ER und vom 29.11.2024 – L 9 SO 245/24 B ER).
Fazit
Die Verstorbene war schon zum Zeitpunkt ihrer Begutachtung durch das Betreuungsgericht Ende 2016 teilweise desorientiert, ihre kognitiven Fähigkeiten waren stark eingeschränkt und es bestanden akustische Halluzinationen und paranoide Ideen. Es wurde die Diagnose einer mittelschweren Demenz einhergehend mit einer organischen paranoiden Psychose gestellt, deren Auswirkungen sich im hier streitigen Zeitraum ab dem 06.06.2019 noch verschlimmert haben werden.
Sie konnte deshalb zu Lebzeiten keine Auskunft zum Verbleib des Vermögens mehr machen und unterfällt somit einer der beschriebenen Fallgestaltungen mit der Folge, dass Hilfebedürftigkeit anzunehmen ist.
Für das Gericht waren verschiedene Erklärungen – Fallgestaltungen denkbar, was mit einstmals vorhandenem Vermögen geschehen sein kann
1. Der Leistungsberechtigte hat das Vermögen selbst verbraucht durch ein ausgeprägtes Kaufverhalten. Die Betreuerin hat bei Auflösung der Wohnung 30 billige Armbanduhren gefunden.
2. Es besteht die Möglichkeit, dass die verstorbene das Geld verschenkt hat oder sie Opfer von Straftaten geworden ist. Es ist gerichtsbekannt, dass gerade Senioren, namentlich solche mit beginnenden geistigen Einschränkungen, häufig Opfer betrügerischer Aktivitäten mit erheblichem Schaden werden.
3. Veruntreuung des Geldes durch einen Bevollmächtigten – hier wohl nicht denkbar
4. Es besteht auch die Möglichkeit, dass der Leistungsberechtigte das Geld irgendwo deponiert hat, etwa in einem Bankschließfach oder bei einer dritten Person. Dann wäre das Geld zwar noch seinem Vermögen zuzurechnen, aber es wäre dennoch nicht verwertbar, wenn sich der Leistungsberechtigte krankheitsbedingt nicht mehr daran erinnern kann, wo es sich befindet.
In allen beschriebenen möglichen Fallgestaltungen ist Hilfebedürftigkeit aber – gegeben!
Anmerkung Sozialrechtsexperte von Tacheles e. V.
1. Nach der Rechtsprechung gilt, dass die Annahme von Hilfebedürftigkeit grundsätzlich voraussetzt, dass der Verbleib von Vermögen nachgewiesen wird, wenn ein solches zu einem früheren Zeitpunkt vorhanden gewesen ist.
2. Die Hilfebedürftigkeit ist als anspruchsbegründende Tatsache vom Hilfesuchenden darzulegen. ist die Hilfebedürftigkeit auch nach Ausschöpfung aller denkbaren Erkenntnisquellen nicht hinreichend wahrscheinlich, so geht dies nach allgemeinen Regeln zu Lasten des Hilfesuchenden.
3. Von diesem Grundsatz bestehen jedoch Ausnahmen, insbesondere bei psychischen Erkrankungen. Dies kann dazu führen, dass Sozialhilfe ausnahmsweise auch bei Restzweifeln zu bewilligen sei ( vgl. LSG NRW, Beschluss vom 25.10.2017 – L 9 SO 413/17 B ER).