Ein einziges Datum kann über Hunderte Euro an monatlichen Krankenkassenbeiträgen entscheiden. Das hat das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern mit seinem Urteil (Az. L 6 KR 39/20) bestätigt.
Wer die sogenannte 9/10-Vorversicherungszeit bei Antragstellung auf Altersrente nicht erfüllt, bleibt – lebenslang – nur freiwilliges Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung und zahlt spürbar mehr als Pflichtversicherte in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR).
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Der konkrete Fall vor Gericht
Der Kläger, Jahrgang 1952, hatte 2015 seinen Rentenantrag gestellt. Zu diesem Zeitpunkt fehlten ihm exakt zwei Jahre und zwanzig Tage in der gesetzlichen Krankenversicherung, weil er in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren privat versichert war.
Damit verfehlte er die gesetzlich geforderte Quote knapp, die verlangt, dass Versicherte in der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens mindestens zu neun Zehnteln Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung sein müssen.
Das Gericht entschied, dass die Prüfung starr an das Antragsdatum anknüpft; spätere Versicherungszeiten zählen nicht. Persönliche Gründe oder Unkenntnis änderten daran nichts.
Die 9/10-Regelung – Zweck und historische Entwicklung
Die Vorversicherungszeit soll verhindern, dass Versicherte während ihres Berufslebens Vorteile einer privaten Krankenversicherung nutzen, um sich dann im Alter in das Solidarsystem „einzukaufen“. Rechtlich verankert ist sie in § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V. Seit 2017 können pro Kind pauschal drei anrechenbare Jahre gutgeschrieben werden, was die Hürde für Eltern etwas senkt.
Grundsätzlich hat die Rechtsprechung, einschließlich des Bundesverfassungsgerichts, die Regel als verfassungsgemäß bestätigt, weil sie jene begünstigt, die dem gesetzlichen System „in besonderer Weise verbunden“ geblieben sind.
Weitreichende Auswirkungen einer verpassten Frist
Der Unterschied zwischen KVdR-Pflichtversicherung und freiwilliger Mitgliedschaft ist erheblich. Pflichtversicherte Rentnerinnen und Rentner tragen nur den halben allgemeinen Beitragssatz sowie die Hälfte des Zusatzbeitrags; die andere Hälfte übernimmt die Rentenversicherung.
Freiwillig Versicherte zahlen dagegen den Gesamtbeitrag und müssen ihn zudem – anders als KVdR-Mitglieder – auch auf weitere Einkünfte wie Mieten oder Betriebsrenten abführen.
Schon bei einer durchschnittlichen gesetzlichen Rente kann das leicht 100 Euro und mehr im Monat ausmachen, bei höheren Nebeneinkünften sogar ein Mehrfaches.
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Wer besonders gefährdet ist
Besonders häufig betroffen sind Personen, die lange privat versichert waren: Selbstständige, Freiberufler, Beamtenanwärter auf Zeit und gutverdienende Angestellte oberhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze.
Rund 39 Prozent der Selbstständigen sind laut Mikrozensus privat versichert und riskieren bei einer späteren Rückkehr in die gesetzliche Kasse, die 9/10-Quote nicht mehr zu erreichen.
Timing ist alles: Handlungsspielräume vor dem Rentenantrag
Wer heute Ende 40 oder älter ist, sollte seine Krankenversicherungsbiografie genau prüfen, bevor er den Rentenantrag stellt. Kindererziehungs-, Pflege-, Arbeitslosen- oder Auslandszeiten können anrechenbar sein und die Quote verbessern. Manchmal genügt es, den Antrag wenige Monate oder ein, zwei Jahre zu verschieben, um die fehlenden Pflichtjahre noch aufzubauen.
Fachleute wie der Rentenexperte Peter Knöppel raten deshalb, den Rentenantrag erst zu stellen, wenn alle Voraussetzungen belegt sind und die Krankenkasse die Vorversicherungszeit vorab bestätigt hat.
Rechtspolitische Diskussion und Reformbedarf
Kritiker halten das starre Stichtagsprinzip für unverhältnismäßig, weil es lebenslaufbedingte Brüche – etwa Selbstständigkeit oder Pflege von Angehörigen – nicht berücksichtigt. Reformvorschläge reichen von einer gleitenden Übergangsregel bis hin zur Möglichkeit, fehlende Pflichtzeiten nachträglich gegen Beiträge auszugleichen.
Die Bundesregierung hat allerdings bislang keinen Handlungsbedarf signalisiert und verweist auf die „erprobte und verfassungsgemäße“ Ausgestaltung des § 5 SGB V.
Sozialverbände sehen hier eine Schieflage zulasten älterer Selbstständiger und fordern zumindest eine erweiterte Kinder- und Pflegezeiten-Anrechnung.
Fazit
Das Urteil bestätigt, dass kleine Formfehler beim Rentenantrag hohe Lebenszeitkosten verursachen können. Wer in den Ruhestand wechseln will, muss seine Krankenversicherungszeiten akribisch prüfen oder professionelle Beratung in Anspruch nehmen. Denn nach dem Stichtag ist jede Nachbesserung ausgeschlossen – und der Mehrbeitrag begleitet Betroffene über Jahrzehnte.