Das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. April 2018 (Az. B 8 SO 25/16 R) behandelte eine Fragestellung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung: Ab welchem Zeitpunkt steht schwerbehinderten Menschen ein pauschalierter Mehrbedarf zu, wenn die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ erst später formal festgestellt werden?
Das Gericht entschied in diesem Fall, dass die Leistung frühestens ab dem Zeitpunkt des Feststellungsbescheids gewährt werden kann und eine rückwirkende Anerkennung ausgeschlossen ist. Dieses Urteil hat weitreichende Konsequenzen für die Praxis der Sozialhilfe.
Worum ging es in dem Verfahren?
Die Klägerin, Jahrgang 1946, bezog neben ihrer Altersrente ergänzende Leistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch XII (SGB XII). Aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen stellte sie im Oktober 2013 einen Antrag auf Feststellung des Merkzeichens „G“ (erhebliche Gehbehinderung).
Das zuständige Versorgungsamt bestätigte die Voraussetzungen für das Merkzeichen rückwirkend ab dem Antragsdatum. Daraufhin bewilligte der Sozialhilfeträger der Klägerin einen pauschalierten Mehrbedarf gemäß § 30 Abs. 1 SGB XII, allerdings erst ab April 2014, dem Monat, in dem der Feststellungsbescheid erging.
Die Klägerin argumentierte, dass ihr der Mehrbedarf bereits ab dem Oktober 2013 zustehe, da die gesundheitlichen Voraussetzungen zu diesem Zeitpunkt bereits vorgelegen hätten. Das Sozialgericht Landshut gab ihr zunächst recht und entschied, dass die finanziellen Mittel rückwirkend gewährt werden müssten, um behinderungsbedingte Mehrausgaben auszugleichen.
Dieses Urteil wurde jedoch durch das BSG aufgehoben, das sich klar gegen eine rückwirkende Anerkennung aussprach.
Warum lehnte das BSG die rückwirkende Anerkennung ab?
Das BSG führte aus, dass die gesetzliche Grundlage des § 30 Abs. 1 SGB XII eindeutig sei. Demnach setzt die Gewährung eines pauschalierten Mehrbedarfs voraus, dass das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen durch einen Bescheid oder einen Schwerbehindertenausweis nachgewiesen wird. Ohne einen solchen formalen Nachweis bestehe kein Anspruch.
Das Gericht stützte seine Argumentation auf das sogenannte Gegenwärtigkeitsprinzip der Sozialhilfe. Dieses Prinzip besagt, dass Sozialhilfe nur den aktuellen Bedarf decken soll und nicht für vergangene Zeiträume gewährt wird, in denen ein etwaiger Bedarf noch nicht formell festgestellt war.
Mit anderen Worten: Sozialhilfe ist nicht darauf ausgelegt, rückwirkende Leistungen zu erbringen, sondern zielt darauf ab, aktuelle Bedarfe zu decken.
Darüber hinaus betonte das BSG, dass der Gesetzgeber mit der ab 2006 geltenden Fassung des § 30 Abs. 1 SGB XII lediglich den Zugang zu den Leistungen erleichtern wollte, indem er die Nachweispflicht präzisierte. Es sei jedoch nicht beabsichtigt gewesen, die Möglichkeit zu schaffen, pauschalierte Mehrbedarfe rückwirkend für Zeiträume zu gewähren, in denen noch kein formaler Nachweis vorlag.
Welche Bedeutung hat das Urteil für die Praxis?
Das Urteil stellt klar, dass die Leistungsbewilligung im Rahmen des § 30 Abs. 1 SGB XII ausschließlich auf den Zeitpunkt des Feststellungsbescheids abstellt. Dies hat mehrere praktische Konsequenzen. Zum einen erhalten Sozialhilfeträger eine rechtliche Grundlage, um klare zeitliche Grenzen für die Leistungsbewilligung zu ziehen.
Damit wird der Verwaltungsaufwand für rückwirkende Anträge reduziert, was sowohl die Behörden als auch die Betroffenen vor langwierigen Streitigkeiten schützt.
Für die Betroffenen bedeutet das Urteil jedoch, dass sie bis zur Ausstellung eines Feststellungsbescheids oder eines Schwerbehindertenausweises keinen Anspruch auf den pauschalierten Mehrbedarf haben.
Dies könnte insbesondere für Personen problematisch sein, die auf diesen Mehrbedarf angewiesen sind, um behinderungsbedingte Mehrausgaben zu decken.
Allerdings weist das BSG darauf hin, dass es den Betroffenen weiterhin offensteht, konkrete behinderungsbedingte Mehrkosten über andere Regelungen, wie etwa § 27a Abs. 4 SGB XII, geltend zu machen. Dies erfordert jedoch, dass die Betroffenen ihre Mehrkosten detailliert nachweisen, was zusätzlichen Aufwand bedeutet.
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Carolin-Jana Klose ist seit 2023 Autorin bei Gegen-Hartz.de. Carolin hat Pädagogik und Sportmedizin studiert und ist hauptberuflich in der Gesundheitsprävention und im Reha-Sport für Menschen mit Schwerbehinderungen tätig. Ihre Expertise liegt im Sozialrecht und Gesundheitsprävention. Sie ist aktiv in der Erwerbslosenberatung und Behindertenberatung.