Versorgungsämter lehnen Anträge auf Schwerbehinderung bei seltenen Erkrankungen bisweilen häufig ab, weil sie keine gelistete Diagnose finden und ihnen deshalb die Einordnung fehlt. Diese Praxis verkennt den gesetzlichen Prüfmaßstab.
Denn das Schwerbehindertenrecht verlangt keine Diagnoseliste, sondern eine Bewertung realer Einschränkungen. Sozialgerichte greifen genau dort ein, wo Behörden fälschlich pauschal statt individuell entscheiden.
Inhaltsverzeichnis
Das Schwerbehindertenrecht misst Teilhabe, nicht Etiketten
Rechtsgrundlage für die Feststellung des Grades der Behinderung ist § 152 SGB IX in Verbindung mit der Versorgungsmedizin-Verordnung. Maßgeblich sind die Auswirkungen der Gesundheitsstörung auf die Teilhabe, nicht deren medizinischer Name.
Es geht um die Einschränkungen in der Teilhabe
Sozialgerichte beanstanden regelmäßig Bescheide, in denen Versorgungsämter nicht die tatsächlichen Einschränkungen würdigen. Erforderlich ist eine individuelle Gesamtbetrachtung, die körperliche, psychische und kognitive Beeinträchtigungen zusammenführt. Eine schematische Tabellenentscheidung genügt diesen Anforderungen nicht.
Nicht die Diagnose entscheidet, sondern die Beeinträchtigung
Behinderung liegt rechtlich dort vor, wo gesundheitliche Einschränkungen dauerhaft auf Barrieren treffen und die gleichberechtigte Teilhabe erheblich beeinträchtigen. Sozialgerichte prüfen deshalb, ob Einschränkungen über mindestens sechs Monate hinweg das tägliche Leben prägen, etwa durch reduzierte Belastbarkeit, Mobilitätseinbußen oder kognitive Defizite. Dieser funktionsbezogene Maßstab folgt dem international anerkannten WHO-Verständnis und ist verbindlich anzuwenden.
Wenn die Tabelle nicht passt, greift die Analogbewertung
Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze sehen ausdrücklich vor, nicht gelistete Gesundheitsstörungen vergleichend zu bewerten. Versorgungsämter untersuchen daher, welchen gelisteten Störungen die funktionellen Auswirkungen am nächsten kommen. Lehnen Versorgungsämter Anträge auf Basis nicht gelisteter Krankheiten ab, ohne die konkreten Folgen zu prüfen, ist der Bescheid rechtswidrig.
Welche seltenen Krankheiten sind mit welchen gelisteten Erkrankungen vergleichbar?
Wenn eine seltene Erkrankung nicht ausdrücklich in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen auftaucht, verlangt das Recht eine Vergleichsbewertung mit gelisteten Erkrankungen, deren Funktionsbeeinträchtigungen ähnlich schwer wiegen. Entscheidend ist dabei nicht die medizinische Ursache, sondern das Ausmaß der Einschränkungen in Mobilität, Belastbarkeit, Wahrnehmung, Selbstversorgung oder sozialer Teilhabe.
Das Amt prüft dann, ob etwa Gehstreckenminderung, Belastungsintoleranz oder neurologische Ausfälle eine ähnliche Intensität erreichen. Sozialgerichte verlangen diesen Vergleich ausdrücklich, um Gleichbehandlung sicherzustellen.
Fatigue und neurologische Erkrankungen
So wird etwa das Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) regelmäßig mit schweren internistischen oder neurologischen Erkrankungen verglichen, bei denen eine ausgeprägte Belastungsintoleranz, reduzierte Gehfähigkeit und kognitive Leistungseinbrüche vorliegen. Als Vergleich dienen gelistete Erkrankungen mit dauerhafter Leistungsunfähigkeit und erheblicher Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit, etwa schwere Herz- oder Lungenerkrankungen mit geringer Belastungsreserve.
MCAS – Allergie und Immunologie
Das Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS) lässt sich funktionell mit schweren allergologischen oder immunologischen Erkrankungen vergleichen, bei denen multiple Organsysteme betroffen sind. Wenn Kreislaufzusammenbrüche, Atemnot, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Notfallsituationen den Alltag prägen, orientieren sich die Gerichte an gelisteten Erkrankungen mit systemischer Organbeteiligung und hoher Anfallsdichte.
Auch die konkrete Ausprägung entscheidet über den Vergleich
Beim seltenen Ehlers-Danlos-Syndrom zum Beispiel kommt es auf die konkrete Ausprägung an. Bestehen chronische Schmerzen, Gelenkinstabilitäten, wiederkehrende Luxationen und eingeschränkte Mobilität, erfolgt die Vergleichsbewertung häufig mit schweren Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates, etwa ausgeprägten Wirbelsäulenschäden oder Gelenkerkrankungen mit dauerhafter Funktionseinbuße.
Vergleich mit Defiziten
Eine Autoimmunenzephalitis wird funktionell nicht über ihre immunologische Ursache bewertet, sondern über die verbleibenden neurologischen und kognitiven Defizite. Vergleichsmaßstab sind gelistete Erkrankungen des zentralen Nervensystems mit anhaltenden Störungen von Konzentration, Gedächtnis, Reizverarbeitung oder emotionaler Steuerung, wie sie etwa nach schweren Hirnschädigungen auftreten.
Seltene Dysautonomien oder autonome Neuropathien lassen sich mit gelisteten Erkrankungen vergleichen, bei denen das vegetative Nervensystem dauerhaft gestört ist. Wenn Kreislaufregulation, Temperatursteuerung, Verdauung oder Belastbarkeit massiv eingeschränkt bleiben, orientiert sich die Bewertung an schweren neurologischen Funktionsstörungen mit systemischer Auswirkung.
Vergleich statt Diagnose
Diese Vergleichslogik zwingt die Behörde, den Blick von der Diagnose zu lösen und sich auf die tatsächliche Beeinträchtigung zu konzentrieren. Je klarer Sie darlegen, welche gelisteten Funktionsverluste Ihrer Erkrankung entsprechen, desto schwerer fällt es dem Versorgungsamt, Ihren Anspruch mit dem Hinweis auf eine fehlende Nennung abzulehnen.
Warum viele Krankheiten nicht gelistet sind
Die Versorgungsmedizin-Verordnung kann die Vielzahl seltener Erkrankungen nicht vollständig abbilden. Der Gesetzgeber hat sich bewusst für ein funktionsbezogenes System entschieden, um medizinischen Fortschritt und neue Krankheitsbilder einzubeziehen. Probleme entstehen erst dort, wo Behörden Tabellen als starres Ausschlussinstrument missverstehen.
Ablehnungsfloskel „Ihre Diagnose ist nicht in der Tabelle“
Diese Begründung ist rechtlich unzulässig, weil sie die vorgeschriebene Analogbewertung ignoriert. Sobald eine Erkrankung nicht ausdrücklich genannt ist, muss die Behörde vergleichen, begründen und bewerten. Sozialgerichte heben Bescheide auf, die diesen Schritt unterlassen.
Ablehnungsfloskel „Objektiv nicht nachweisbar“
Auch ohne eindeutige Laborwerte müssen Versorgungsämter eine Gesamtschau aus Befunden, Verlauf und fachärztlichen Einschätzungen vornehmen. Eine pauschale Abwertung als „subjektiv“ genügt nicht. Gerichte verlangen eine nachvollziehbare Beweiswürdigung aller vorliegenden Unterlagen.
Was Betroffene tun können, um Anerkennung durchzusetzen
Sie sollten Ihren Antrag als Beschreibung Ihrer Teilhabeeinschränkungen formulieren, nicht als Diagnosensammlung. Ärztliche Stellungnahmen müssen konkret darstellen, was Sie nicht mehr können, wie lange die Einschränkungen bestehen und wie sie den Alltag beeinflussen. Widerspruch und Klage eröffnen häufig erst die zwingend erforderliche individuelle Prüfung.
Anerkennung trotz seltener Erkrankung bei Babette
Babette leidet an Myalgischer Enzephalomyelitis mit ausgeprägter Belastungsintoleranz und kognitiven Einbrüchen. Nach zunächst niedriger Bewertung erkannte das Amt im Widerspruchsverfahren einen GdB von 50 an, weil die dauerhaften Funktionsstörungen mehrere Lebensbereiche erheblich einschränkten.
Anerkennung nach Widerspruch bei Cecilia
Cecilia entwickelte nach einer Autoimmunenzephalitis bleibende Konzentrations- und Wahrnehmungsstörungen. Erst eine neurologische Zusatzbewertung führte zur Anerkennung der Schwerbehinderung, weil die Einschränkungen dauerhaft und alltagsrelevant waren.
Anerkennung über Analogbewertung bei Ronny
Ronny lebt mit einem Mastzellaktivierungssyndrom mit schweren Kreislaufproblemen und Multisystembeteiligung. Durch konsequente Analogbewertung anhand vergleichbarer Organbeeinträchtigungen erkannte das Versorgungsamt schließlich eine Schwerbehinderung an.
Wenn Krankheiten aus dem Raster fallen und nicht anerkannt werden
Hubert scheiterte mit einer seltenen Schmerzstörung, weil seine Unterlagen keine konkreten Alltagsausfälle belegten. Mandinka verlor, weil episodische Stoffwechselkrisen nicht als dauerhaft lebensprägend dokumentiert waren. Justine erhielt keine Anerkennung, weil Ausfallzeiten und Einschränkungen bei ihrer seltenen Migräneform nicht konsistent nachgewiesen wurden.
Worauf müssen Sie bei einem Antrag mit nicht gelisteter Erkrankung besonders achten?
Wenn Ihre Erkrankung nicht ausdrücklich in den Tabellen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze erscheint, entscheidet die Qualität Ihres Antrags über Erfolg oder Ablehnung. Sie müssen deutlich machen, welche konkreten Funktionsbeeinträchtigungen bestehen und wie diese Ihr tägliches Leben dauerhaft einschränken.
Allgemeine Diagnosen reichen nicht aus, wenn nicht erkennbar wird, was Sie im Alltag tatsächlich nicht mehr oder nur noch unter großen Anstrengungen bewältigen können. Gerade bei seltenen Krankheiten ist ein solider ärztlicher Befundbericht sehr wichtig.
Zentral sind präzise ärztliche Dokumentierungen und Bewertungen, die nicht nur Symptome nennen, sondern deren Auswirkungen beschreiben, etwa reduzierte Gehstrecken, eingeschränkte Belastbarkeit, kognitive Einbußen oder die Notwendigkeit regelmäßiger Ruhephasen. Ebenso wichtig sind detaillierte Schilderungen Ihres Alltags, die zeigen, wie oft und wie lange Einschränkungen auftreten, welche Hilfe Sie benötigen und welche Tätigkeiten nicht mehr möglich sind.
Je klarer sich aus den Unterlagen ergibt, dass Ihre Beeinträchtigungen dauerhaft und teilhaberelevant sind, desto schwerer fällt es dem Versorgungsamt, Ihren Antrag schematisch abzulehnen.
FAQ: Die wichtigsten Fragen zur Schwerbehinderung bei seltenen Erkrankungen
Muss meine Krankheit in der Tabelle stehen?
Nein, entscheidend sind die funktionellen Auswirkungen, nicht die Nennung der Diagnose.
Was ist bei seltenen Erkrankungen besonders wichtig?
Eine detaillierte Beschreibung der Alltags- und Teilhabeeinschränkungen.
Kann ich gelistete Krankheiten vergleichen?
Ja, die Analogbewertung ist ausdrücklich vorgesehen.
Lohnt sich ein Widerspruch?
Sehr häufig, weil Erstbescheide oft schematisch bleiben.
Brauche ich einen Anwalt?
Nicht zwingend, aber bei komplexen medizinischen Fragen oft hilfreich.
Fazit
Seltene Erkrankungen fallen oft aus dem Raster der Tabellen, aber nicht aus dem Recht. Sozialgerichte verlangen eine individuelle, funktionsbezogene Bewertung und korrigieren pauschale Ablehnungen regelmäßig. Wer die typischen Floskeln erkennt, Vergleichsmaßstäbe nutzt und seine Einschränkungen konsequent belegt, kann auch jenseits der Tabelle eine Schwerbehinderung durchsetzen.




